Mit jedem Jahr kommt es ein bisschen stärker auf, dieses heimelige Gefühl, wenn man das Gelände des Maifeld Derbys betritt: Palastzelt und Fackelbühne, Pacours D'Amour und Brückenawardzelt, alles steht dort, wo man es erwartet. Der vertraute Anblick sorgt für große Vorfreude.

Bis auf einige kleinere Veränderungen sieht das Gelände fast so aus, wie man es aus dem letzten Jahr in Erinnerung hat. Die größte Neuerung 2017 sind die riesigen Kamera-Kräne, die den Publikumsbereich von Palastzelt und Fackelbühne schmücken, und mit denen einige ausgewählte Konzerte live gestreamt werden.

Startschuss

Einer der ersten Acts, dem die Ehre des Livestreams zuteil wird, ist Voodoo Jürgens, die jüngste Blüte des momentan so viralen Austro-Pop-Hypes. Im Zentrum stehen die schwarzhumorigen, in breitestem Wienerisch vorgetragenen Vocals, während die mit Akkordeon, Klavier und Drums ausgestattete Backing-Band hin und wieder ein bisschen ins Nervige abdriftet.

Auch bei den britischen Wild Beasts steht klar der Falsett-Gesang von Sänger Hayden Thorpe im Vordergrund der energetischen Live-Show, musikalisch bewegt sich die Band souverän zwischen Indie-Rock, Synth-Pop und dem ein oder anderen Ausflug in Soft-Rock-Gefilde. Wer die Band bisher noch nicht kannte, dem dürfte der abwechslungsreiche Auftritt Anlass genug sein, sich näher mit der Musik zu beschäftigen.

Vokalakrobatik

Während im Brückenawardzelt The Lytics mit positiven, nachdenklichen Texten zu klassischen Boom-Bap-Beats das Publikum zum Kopfnicken animieren, wickeln Why? die mal gerappten, mal gesungenen und stets absurd-surrealistischen Texte von Frontmann Yoni Wolf in ein verschrobenes Indielectro-Gewand, das sich dem ein oder anderen Hörer wohl erst mit der Zeit erschließt. 

Obwohl das Set-up der Band – man steht und sitzt sich im zum Publikum offenen Stuhlkreis gegenüber – eher nach Jugendfreizeit als Rap-Show aussieht, und die Musiker sich auch den ein oder anderen (hörbaren) Schnitzer erlauben, gelingt es Why? das Publikum mit ihren detailverliebten Beats zum Tanzen, Schunkeln und Mitsingen zu treiben. 

Monotonie und Alltag

Im Palastzelt lösen Cigarettes After Sex die vorherigen Why? mit einem ulkigen Stilbruch ab: Von surrealer Tanzmusik zu zurückgenommenem, introspektiven Ambient Pop in weniger als einer Minute. Obwohl schon seit 2012 aktiv, hat die Band erst in diesem Jahr ihr Debut veröffentlicht – Schnelligkeit scheint, wie es auch die Songs beweisen, nicht ihre Stärke zu sein.

Das ist natürlich voll in Ordnung, Melancholie und Speed Metal-Tempi bleiben eben ein Gegensatz. Doch hier und da würden Cigarettes After Sex während ihres einstündigen Sets ein bisschen mehr Wumms und/oder Abwechslung schon gut tun.

Dass man als Band mit ordentlich Wumms die Abwechslung nicht zwingend braucht, demonstrieren mehr als überzeugend Friends of Gas. Während der Zuschauer sich noch fragt, was zuerst da war – der übergroße Aral-Overall der Sängerin oder der Bandname – reißt einem der brachiale, Sonic Youth-inspirierte Sound schon den Boden unter den Füßen weg – und bleibt grade durch die atonalen Ausflüge und die zelebrierte Monotonie der Songs konstant spannend.

Am Ende

An dem Londoner SOHN war es, den letzten Freitags-Auftritt auf der Fackelbühne zu spielen. Dabei polarisierte der Multiinstrumentalist mit seinem irgendwo zwischen Electronica und Post-Dubstep wandelnden Sound: Für die einen war dieser der willkommene Aufruf zum rücksichtslosen Tanzen, während die anderen abgeschreckt waren. Was die einen als einfühlsamen Gesang hörten, empfanden andere als ausdruckslos und fade.

Wer der zweiten Gruppe angehörte, konnte in der Zwischenzeit Kräfte und Alkohol für den Auftritt von Bilderbuch tanken – und tatsächlich: Die Hype-Band aus Wien zieht im Palastzelt alle Register. Sänger Maurice weiß bekanntlich, wie man die Zuschauermasse putscht, beim Maifeld Derby stellt er dieses Können mit Bravour unter Beweis.

Die beiden Backing-Sängerinnen erweisen sich nebenbei bemerkt als schöne Klang-Erweiterung. Vor allem am Ende ihres Sets fahren Bilderbuch nochmal alle Geschütze auf: "Maschin", "Baba" und "Bungalow" treiben die Festivalbesucher zur Ekstase.

Ganz am Ende

Wem Wien inzwischen gehörig auf die Nerven geht, den zieht es Heim ins Brückenawardzelt. Was zu Beginn noch klingt wie Tocotronic zu "Digital ist Besser"-Zeiten steigert sich immer und immer weiter in ein Noise-Rock-Crescendo, das den Besucher durchaus wirkungsvoll vom Festivalgelände schleudert – vorausgesetzt, dieser ist bereit, Trentemøller zu verpassen.

Das stellt sich zumindest im Nachhinein als nicht empfehlenswert heraus: Wenngleich Trentemøller sich vom reinen Techno-Sound seiner Anfangstage entfernt hat, bietet er ein mit Live-Instrumentierung und melancholischen Melodien gespicktes Elektro-Set, das sich gewaschen hat.

Blackened Black Metal

Die wenigstens Metal-Heads, die sich auf das Maifeld Derby verirrt haben, werden sich als samstäglichen Auftakt Zeal & Ardor entgehen lassen, aber auch zahlreiche "normale" Festivalbesucher finden sich im Palastzelt ein, um einer der wohl gehyptesten "härteren" Bands der Stunde eine Chance zu geben.

Zeal & Ardors Mischung aus Gospel und Black Metal mag auf dem Papier einigermaßen abstrus klingen; live überzeugt die erst seit 2016 existierende Band jedoch bereits ab dem stimmungsvollen Tape-Intro. Groovige Gospel-/Soul-Parts treffen auf Black-Metal-Tremolo-Picking und wuchtige Blastbeats, dominiert wird der Sound vom ausdrucksstarken, mehrstimmigen Gesang. Einziger Wermutstropfen: die im Drum- und Bass-Gewitter leider völlig untergehenden Gitarren.

Burning Temples

Mit definierterem Sound präsentieren sich die neu erfundenen Temples einige Zeit später auf der gleichen Bühne. Der Vintage-Sound ist geblieben, wurde jedoch erweitert mit zahlreichen elektronischen Elementen. Gepaart mit dem nach wie vor starken Songwriting schaffen sie es beinahe mühelos, das Publikum zu umgarnen.

Ryley Walker lädt im Anschluss in den Parcours d'amour ein. Er und seine Band erweisen sich als fabelhafte Musiker. Die ausschweifenden Instrumental-Passagen des Blues-/Folk-Künstlers und dessen oftmals kurz gehaltenen Gesangs-Phrasen liefern den idealen Soundtrack für den Abend. 

Angst und Tanz

Nach langer Pause und Bühnenabstinzenz melden sich American Football mit neuem Album und ersten Live-Dates wieder; ihr Auftritt beim Maifeld Derby stellt insofern eine kleine Sensation dar. Trotz der eher gemischten Kritiken zum zweiten Album ist ihr Live-Set erstaunlich konsistent und spannend, alte und neue Songs gehen fast fließend ineinander über. Der Teufel steckt hier häufig in den Details, den Drum-Patterns und dem komplexen Gitarren-Interplay, über allem schweben Mike Kinsellas angsty Texte über das Erwachsenwerden und -sein.

Denkbar weit von der Midwest-Teenage Angst der American Footballs entfernt scheinen Metronomy kurz darauf die Bühne des Palastzeltes mit dem Vorsatz zu betreten, eine Party von ungeahnten Ausmaßen feiern zu wollen. Man muss den Alle-Regler-auf-Elf-Elektro der Band und die manchmal arg dick aufgetragenen Melodien mögen, um sich ihrem Partywillen beugen zu können – doch gelingt einem dies, wird man Zeuge eines der ausgelassensten Auftritte des Festivals.

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Party Pooper

Im Gegensatz zu dieser rücksichtslosen Spaßkanonade wirkt der Auftritt Kate Tempests auf der Fackelbühne ein bisschen wie ein zufälliges Treffen mit dem Freund, mit dem man eigentlich nicht so gerne zu tun hat, weil er einem immer alles schlechtredet. In ihrer knappen Stunde Spielzeit gibt Tempest beinahe ohne Atempause einen beeindruckend erschöpfenden Überblick über Übel der modernen Welt.

Lässt man sich ein auf diesen nicht enden wollenden Strom geschliffener Worte und pointierter Bilder  – mal mit Beat, mal ohne –, wird man schneller mitgerissen als einem das lieb ist. Immer wieder brandet während einiger besonders kraftvoller Zeilen Applaus auf, und spätestens am Schluss, als Tempest zum einem Kommentar zum Brexit ansetzt, ist es schwierig, nicht ohne Tränen oder zumindest eine nachhaltige Gänsehaut dazustehen.

All jenen starken Seelen, die sich nach Kate Tempest noch nicht völlig mitgenommen fühlen, bietet sich in quasi fliegendem Wechsel der clubtaugliche Elektro von Moderat im Palastzelt. Ein bisschen Kraftwerk-Vibe kommt auf, wenn man die drei Musiker bloß schemenhaft vor dem gigantischen Video-Screen stehen sieht. Musikalisch sind Moderat ein bisschen fetter, ein bisschen clubtauglicher, und vor allem viel tanzbarer.

Schon wieder Voodoo

Viel schneller, als man das erwartet hätte, findet man sich plötztlich am dritten und letzten Tag auf dem Festivalgelände des Maifeld Derby wieder (oder auf der Wiese zwischen unbekannten Zelten, je nachdem, wie ernst man das mit der Party am Vortag genommen hat). 

Glücklicherweise wird der Zuschauer durch den Auftritt von King Khan & The Shrines, der den letzten Tag eröffnet, von allzu traurigen Gedanken abgehalten: Trotz der frühen Stund' hat sich eine respektable Menschenmenge vor der Fackelbühne versammelt, um dem exzentrischen Soul-Sänger und seiner Band bei deren mitreißenden Voodoo-Workout beizuwohnen.

Der Auftritt der japano-amerikanischen Sängerin Mitski (& Band), die Khan nach kurzem Umbau auf der Bühne ablöst, könnte gegensätzlicher nicht sein. Obschon der mitreißende Indie-Groove der Band das Publikum schon mit den ersten Takten in Bewegung versetzt, verzieht Mitski zu keinem Zeitpunkt Miene, verweigert sich mit ernstem Blick der ausgelassenen Bewegung. Gerade diese Daria-eske Anti-Haltung ist es allerdings, die dem Auftritt (abseits der großartigen Songs) das gewisse Etwas verleiht.

Banana Youth

Den Sonic Youth-Fans, die sich vom Auftritt des Ex-Frontmannes Thurston Moore eine Zeitreise in die no-wavige Art-Punk-Phase der legendären Band erhofft haben, den würde man retrospektiv gerne raten, sich doch besser Friends of Gas anzuschauen.

Denn das, was Moore bietet, ist zwar weder schlecht noch lässt es seine Trademarks – seltsame Tunings, cooler-than-thou-Gesang, endlose Wiederholungen – vermissen, ist aber musikalisch eine ganz andere Baustelle. Der an Neil Young erinnernde Americana-Einschlag passt allerdings auch wesentlich besser zum unter der brennenden Sonne aufkommenden Wüstenfeeling vor der Fackelbühne.

Noch stärker profitieren kurz darauf King Gizzard & The Lizard Wizard von dieser Atmosphäre: Nach ihrem energiegeladenen Auftritt kann man sich weder die mikrotonalen, orientalisch klingenden Licks ihres letzten Albums "Flying Microtonal Banana" noch die irgendwo zwischen 70er-Sound und modernem Stoner dümpelnden Riffrocker der Australier jemals wieder in einem anderen Kontext als im Staub des Maifeld Derby vorstellen.

Back to the 90s

Das 90er-Revival, das mit den Headlinerbands des Festival-Sonntags (unfreiwillig?) angezettelt wurde, wird eingeleitet von Spoon: Wenngleich die Band handwerklich wenig zu wünschen übrig lässt, muss man ihren mal artsy, mal psychedelisch angehauchten Indiepop mögen, um ihr Set und auch die frenetisch feiernde Fanbase nachvollziehen zu können.

Gleiches gilt auch für den folgenden Stilbruch in Form von Amanda Palmer (Ex-Dresden Dolls) und Edward Ka-Spel (The Legendary Pink Dots), die mit ihrem düsteren, kabarettartigen Sound, der häufig nur aus Klavier, Geige, Drones und Stimme besteht, so gar nicht zwischen Spoon und Primal Scream passen.

Doch auch hier gilt: Gelingt es, sich (trotz technischer Probleme) auf den eigenwilligen Sound einzulassen, kann man leicht von dem mysteriösen Säuseln Ka-Spells und insbesondere dem kraftvollen Klavierspiel und Gesang Palmers gepackt werden. Gerade das ausladende Finale, in dem Palmer all ihre Energiereserven aufzubrauchen scheint, geht unter die Haut.

Klimax

Nach dem atmosphärischen Umweg über Amanda Palmer & Edward Ka-Spel geht es auf die Zielgrade des Festivals und auch des 90er-Themes: Den Anfang machen Primal Scream auf der Fackelbühne. Inmitten der prallen Sommersonne liefern sie einen atemberaubenden Auftritt, der die Zuschauer im besten Sinn zum Abgehen animiert.

Schon der Opener "Swastika Eyes" brettert mit einem wahnsinnigen Druck über das Gelände, dann folgt eine Mischung aus neuen Songs und Klassikern, gespielt von einer inspirierten Band, die vor Energie nur so zu strotzen scheint. Andrew Innes schleudert dem Publikum geniale Gitarrenriffs entgegen und Bobby Gillespie erweist sich als der coolste Frontman aller Zeiten. Wahnsinniges Glücksgefühl macht sich breit. Schade nur, dass die Band nur eine Stunde spielte.

Kopfüber

Der Festival-Headliner Slowdive sollte die Trauer jedoch schnell vergessen machen. Die noch nicht allzu lange wiedervereinte Band betritt ohne viel Aufhebens die Bühne und zeigt schon mit dem Opener "Slowdive", dass sie nichts verlernt haben. Verträumter Gesang trifft auf effektgeschwängerte Gitarrenspuren, mal brachial ("Star Roving"), mal ätherisch ("When The Sun Hits").

Songs aus fast jeder Schaffensperiode (sogar von "Pygmalion"!) fließen ineinander, dazu gibt es eine stimmungsvolle Lichtshow und eine manchmal interessante, manchmal eher störende Visuals – der Auftritt bietet alles, was man sich wünschen konnte, und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr.

Danke, Maifeld, dass wir Zeuge dieses Auftritts, dieser Auftritte werden durften, danke für die reibungslose Organisation. Bis zum nächsten Jahr.

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