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Marilyn Manson (live in Hamburg, 16.11.2017) © Philipp Karadensky

Marilyn Manson übernimmt Kontrolle über das UFO im Berliner Velodrom. Die ein oder andere Bruchlandung lässt sich beim angestrebten Höllenflug vor ausverkauftem Haus dabei leider nicht vermeiden.

Die Vokabel "Schock" haftet an Marilyn Manson wie eine Klette. Heute allerdings schockt der einstige erklärte Sittenfeind Nr. 1 nicht mehr wie zu Beginn seiner Karriere durch kompromissloses Auftreten. Anno 2017 sorgen Merchandise-Preise ("Echt abartig, T-Shirts für 40 Euro zu verkaufen") und Konzertqualität für eiskalte Schauer.

Mansons diesjährige Show beim Wacken Open Air ist einigen Stimmen zufolge heißer Anwärter auf die schlechteste Performance in der Geschichte des traditionsreichen Metal-Festivals. So schlimm haben es die Besucher im Berliner Velodrom zum Glück nicht erwischt. Sie erleben zwar einen physisch angeschlagenen und deshalb sehr statisch agierenden Manson, dafür aber einen äußerst stimmgewaltigen.

Schwer verdaulicher Support

Doch bevor der Antichrist Superstar auf die Bühne tritt, stellt er die Nerven seiner zahlreich erschienenen Hauptstadtfans auf eine harte Probe: Dinos Chapman eröffnet den Abend mit einem halbstündigen DJ-Set. Das fällt zwar immerhin düster aus und ist für sich genommen sicher nicht schlecht – nur hier leider vollkommen fehl am Platz.

Die enthusiastischste Publikumsreaktion, die Chapman heute bekommt, ist eine Stinkefingerwand. Ungeduldige Pfiffe durchsetzen seinen Auftritt, den jemand mit den Worten: "Der Typ guckt, als würde er gerade Windows updaten", zusammenfasst.

Regentschaft aus dem Rollthron

Immerhin muss der Held des Abends so nicht fürchten, dass ihm jemand die Show stiehlt. Nach langen 45 Minuten Umbaupause ertönt The Doors' "The End" – das Signal zum Auftakt. Mit "Revelation #12" vom aktuellen Album "Heaven Upside Down" fährt Manson in den Saal. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Wegen einer Ende September bei einem Bühnenunfall zugezogenen Knöchelverletzung trägt der Sänger eine klobige Beinschiene und regiert seine Untertanen zunächst vom Rollthron aus. Die eingeschränkte Mobilität macht er mit druckvollen Schreien wieder wett. Solches Volumen und Kraft in der Stimme zeigt, dass man den Musiker Manson noch lange nicht abschreiben sollte.

Selbiges lässt sich nicht unbedingt von der Performance abseits des Gesangs behaupten. Zwar gelingt es, die Verletzung als Showelement zu integrieren. Zwei Krankenpfleger wuseln über die Bühne, werfen Manson verschiedene Kostüme über, verfrachten ihn gelegentlich nach vorn zum Mikroständer und zu "Sweet Dreams" auf eine Arztliege. Allerdings ist das so ziemlich das einzige Showelement, und je länger Manson es ausschlachtet, desto mehr verkommt es zum Gimmick. Zumal die langen Umziehpausen zwischen Songs recht viel Zeit von dem mit rund 60 Minuten ohnehin sehr knapp bemessenen Hauptteil wegnehmen.

Statisten in der Geisterbahn

Dass Manson mit seinem festgestellten Bein nicht besonders agil über die Bühne fetzt, ist verständlich. Und ehrlich gesagt: Die Inszenierung als kaputter, aber nichtsdestotrotz mächtiger Fürst der Finsternis (er kommandiert seine Pfleger gern herum) hat Charme. Trotzdem hätte es der Show insgesamt gut getan, wenn sie nicht vollständig darauf fokussiert gewesen wäre. Immerhin agieren neben Manson noch vier weitere Musiker, die allerdings im Schatten der einzig auf ihren Boss ausgelegten Lightshow stehen.

Da kann der für den wegen Vergewaltigungsvorwürfen ausgeschiedenen Bassisten Twiggy Ramirez eingesprungene Juan Alderete (The Mars Volta) so viel posen und gen Publikum gestikulieren wie er will: er wirkt trotzdem nur wie ein Statist in der Geisterbahn. Ebenso ergeht es dem inzwischen chefhabenden Songschreiber Mansons, Tyler Bates. Der "Guardians Of The Galaxy"-Komponist bedient neben Paul Wiley die Gitarre und erweist sich als formidabler Rock-Performer.

Sehr ausgewogen gerät die Setlist. Die neuen Songs fügen sich hervorragend zwischen Klassiker wie "This Is The New Shit" und „"mOBSCENE". Gerade das als Zugabe präsentierte "Say10" mit seinem simplen, aber extrem eingängigen Refrain kommt super an. Das zeigt, wie gut Manson den Spirit früherer Tage auf "Heaven Upside Down" einfangen konnte. Und indem er "Deep Six" vom bluesigen Vorgänger "The Pale Emperor" einschiebt, gelingt ihm auch die Verbindung stilistisch unterschiedlicher Schaffensperioden.

Potenzial zum ganz großen Musiktheater

Für ein gutes Konzert sind also im Grunde alle Zutaten vorhanden. Woran es krankt, ist die zugrundeliegende Einstellung. Zu forciert jagt Manson seinem ehemaligen Mutterschreck- und "Scheiß auf alles"-Image hinterher. Er versucht, ein Bild aufrecht zu erhalten, das über einen zu langen Zeitraum schlicht nicht konservierbar ist. Das provokanteste, was heute Abend spricht, lautet: "Danke fürs Kommen. Und ich meine das nicht auf eine sexuelle Weise – noch nicht."

Eine weitere Ansage fasst den greisen und gleichzeitig abgehobenen Zustand seiner Kunstfigur besser zusammen als ihm vermutlich bewusst ist: In Richtung Techniker heißt es: "Könnt ihr mich etwas aufdrehen, bitte? Ich würde das von eben gerne nochmal lauter sagen." Manson gleicht der Karikatur seiner früher gepflegten Persona. Dass er durchaus in der Lage wäre, ohne technische Unterstützung ein bisschen lauter zu werden, zeigt er wie gesagt in den Songs vielfach mit beeindruckenden Screams. Warum dann nicht auch einfach mal dazu stehen?

Zeit für einen Imagewechsel?

Ein Image-Wechsel täte dem Amerikaner wohl ganz gut. Denn als er zu "The Dope Show" tiefschwarzes Gefieder überstreift, blitzt zweifellos Potenzial zum großen Musiktheater auf. Da ist die erhabene Ausstrahlung, die man sonst am Abend zu oft vermisst. Vielleicht sollte Manson anerkennen, dass seine Zeiten als König der Rebellion vorbei sind und stattdessen sein Heil in der Unterhaltung suchen. In diesem Rahmen könnte er sich künstlerisch derzeit wohl deutlich freier ausdrücken als im selbst auferlegten Korsett der Anstößigkeit. Die wirkt nämlich inzwischen nur noch aufgesetzt. Sinnbildlich dafür steht das Hauptelement der heutigen Bühnendekoration: ein billig wirkender Revolveraufsteller. Das Pulver ist verschossen, trotzdem hält Manson an seiner Räuberpistole fest.

Wie es besser geht, demonstriert seit Jahren ein Mann, der nur zwei Tage vorher in Berlin auf der Bühne stand: Alice Cooper. Gruselig ist der schon lange nicht mehr, statt aber verzweifelt zu versuchen, sich alten Status zurückzuerkämpfen, baute er sich einfach einen neuen auf. Er tobt sich künstlerisch und musikalisch aus wie er will und liefert mit beinahe 70 Jahren noch immer bärenstarke Freakshows. Hoffen wir, dass auch Manson einmal an einem ähnlichen Punkt angelangt. Dann fallen vielleicht auch die Zugaberufe weniger verhalten aus. Zu sagen und vor allem zu schreien hat der ehemalige Musikjournalist nämlich noch immer etwas. Derzeit stimmt nur einfach die Verpackung nicht.

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