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U2 (live in Berlin, 2015) © Dominic Pencz

Vier ausverkaufte Konzerte im Rahmen ihrer iNNOCENCE + eXPERIENCE Tour haben Bono und Co. ihrer Berliner Fanbase zugesagt. Neben Bühne und Boxen bespielten die vier Iren vornehmlich eine exorbitante Videoleinwand und einen langen Catwalk durch die Menge, um ihrem Publikum emotionale Nähe und physische Omnipräsenz zu garantieren.

Mitten in Berlin, nahe der Eastside Gallery, regnen Papierfetzen vom Himmel. Es sind herausgerissene Passagen aus Dantes "Göttlicher Komödie", die sich aus der Luft ihren Weg in die jubelnden Massen bahnen. In ihrer Mitte steht ein Mann und rezitiert im Sprechgesangmodus eine fiktionale Unterhaltung zwischen Jesus und Judas, die von Verrat, von Schuldgefühlen und vom Ende der Welt handelt.

Atmosphärisch aufgeladen mit flackerndem Licht, dröhnenden Bässen und surrealen Videoprojektionen prallen hier religiöse Überlieferungen auf technologische Innovation, und eine Erlöserfigur trifft auf einen Superstar im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Moderne. Ein Meet & Greet mit Rock, Politik und Gott. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines U2-Konzerts.

Publikumsnähe

Doch bevor der Frontmann mit der getönten Brille und seine drei Kollegen überhaupt in Erscheinung treten, künden bereits innenarchitektonische Maßnahmen von einem Bandgesetz, das den ganzen Abend über zentral sein wird: Nähe zum Publikum. Von einer kleinen Bühne, über der als einzige Dekoration eine nackte Glühbirne baumelt, führt ein langer Catwalk durch den Publikumsgraben hindurch bis fast ans andere Ende der Arena.

Am dortigen Eingang reckt sich eine Vielzahl von aufgeregten Gesichtern immer wieder in Richtung einer verheißungsvollen Tür, aus der sie jeden Moment kommen müssten. Jedes Geräusch, jeder Lichtwechsel fördert erneut spannungsgeladenes Jubeln und Pfeifen zutage. Das Bier in der einen, das Smartphone in der anderen Hand, haben sich circa 15.000 Menschen versammelt und sind bereit.

Schlichter Auftakt

"People Have The Power" singt plötzlich Patti Smith aus den Boxen. Wieder schwillt der Jubel an und kulminiert nun in einem Sturm der Begeisterung, als die Gruppe, angeführt von einem neuerdings wasserstoffblonden Bono, schließlich erscheint und das Zentrum des Geschehens vom Graben aus entert. Den Catwalk hinter sich lassend, geben sich U2 fürs Erste mit der bescheidenen Bühne zufrieden und eröffnen ihr 2½ stündiges Konzert mit "The Miracle (Of Joey Ramone)", einer Auskoppelung ihres jüngsten Albums "Songs of Innocence".

Auch nachdem Bono die Glühbirne enthusiastisch angeschubst und diese sich in einem fast schon respektvollen Gestus gen Arenadecke verabschiedet hat, bleibt das räumliche und visuelle Setting für die kommenden Minuten geprägt von Schlichtheit und Understatement – untypisch für international erfolgreiche Bands dieser Größenordnung und erst recht denkbar untypisch für U2.

Erinnern und Mahnen per Videoprojektion

Doch mit "I Will Follow" wendet sich das Blatt: Plötzlich kommt Leben in die über dem Catwalk hängende gigantische Leinwand, die bisher nur wie ein deplatziertes Baugerüst in der Luft schwebte. Schwermütig durchtränken die Zeilen von "Iris (Hold Me Close)" den Raum, während Bono pantomimisch die Videoprojektionen seiner zu früh verstorbenen Mutter zu berühren versucht, der dieser Song gewidmet ist. U2 legen großen Wert auf das Erinnern ihrer persönlichen Herkunft und Geschichte.

Identität und Identifikation werden als weitere Kernthemen des Konzerts veranschaulicht, als Bono in der offenbar begehbaren Leinwand verschwindet und das Publikum auf einen Spaziergang durch die comicartig stilisierte "Cedarwood Road" seiner Kindheit mitnimmt. Dennoch verdeutlicht die High-End-Qualität dieser visuellen Performance, dass die einstige Schülerband aus Dublin sich nach knapp 40 Jahren als aktive Musiker sehr weit von ihrem Ausgangspunkt entfernt hat.

Von IRA bis Flüchtlingskrise

Als erwartetes Kapitel des Abends folgt mit "Sunday Bloody Sunday" und "Raised by Wolves" das Gedenken der Opfer vom 30. Januar 1972 und der anschließenden IRA-Anschläge. Die vier Männer aus Irland haben inzwischen gemeinschaftlich den Catwalk besetzt und tauchen immer wieder in die Leinwand, um mit Projektionen der Berliner Mauer zu verschmelzen oder politische Botschaften auch in physischer Hinsicht zu durchdringen.

Wenn Bono mit dem Publikum spricht, läuft eine Anzeigentafel mit Übersetzungen mit, an denen sich ein Unsichtbarer parallel die Finger wundtippt. "Europa muss von einem Gedanken zu einem Gefühl werden", steht dort in großen weißen Lettern. Bilder von zerbombten Häusern und entwurzelten Menschen fluten den Screen, während "Bullet The Blue Sky" durch die Arena hallt.

Eine Botschaft, viele Meinungen

Gebrochen wird die zunehmende Politisierung zwischenzeitlich durch "Mysterious Ways", als Bono ein Fangirl auf die Bühne bittet, um per Webcam Liveimpressionen für U2-Anhänger aus aller Welt bereitzustellen. Unzählige freudige Emoticons zeichnen sich prompt als positives Feedback auf der Leinwand ab. Dann folgen Rückfragen, warum Bono bei dem anschließenden Song "Desire" seinen Einsatz scheinbar vergessen hat.    

Abgesehen von dem visuell stark eingeschränkten Trostpreis-Sitzblock unmittelbar hinter der Bühne, dem Bono vor der Zugabe immerhin noch einen kurzen Besuch abstattet, sollte nun jeder Bescheid wissen, dass ein U2-Konzert inszenatorisch wie inhaltlich mehr als nur Band und Scheinwerfer bedeutet. Stattdessen ist es ein Konglomerat aus Musik und Message, Vergangenheit und Zukunft, spiritueller Besinnung und weltlicher Problemfokussierung. Am Ende hat die ausverkaufte Mercedes-Benz-Arena alles an Gefühlen und Informationen absorbiert, was über 25 Songs hinweg kommuniziert wurde.

U2 verabschieden sich schließlich mit den prägnanten Zeilen: "One love, we get to share it, leaves you baby – if you don't care for it." Der eine mag das als humanistisches Leitbild empfinden, der andere als hohle Phrase. Auch Bono ist sich darüber bewusst: "But we’re not the same", singt er gegen Ende des Songs. Zumindest in dieser Hinsicht muss man ihm Recht geben.

Setlist

The Miracle (Of Joey Ramone) / Out Of Control / Vertigo / I Will Follow / Iris (Hold Me Close) / Cedarwood Road / Song for Someone / Sunday Bloody Sunday / Raised by Wolves / Until the End of the World / Invisible / Even Better Than the Real Thing / Zoo Station / Mysterious Ways / Elevation / Every Breaking Wave / October / Bullet the Blue Sky / Zooropa / Where the Streets Have No Name / Pride (In the Name of Love) / With or Without You // City of Blinding Lights / Beautiful Day / One
 

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