"Pearl Jam Twenty"

"Pearl Jam Twenty" © Danny Clinch

Rainer Döhring, seines Zeichens unter anderem Frontmann der Band Four Sided Cube, vor allem aber eingefleischter Pearl Jam-Fan frühester Stunde, ehrt seine Idole in einem Gastbeitrag für regioactive.de.

{image}Es sei gleich vorausgeschickt: wer nur wenig Interesse an der Lobhudelei besagter Band hat, muss hier nicht mehr weiterlesen, denn es geht um nichts aber auch nichts anderes! Dies will, kann und darf keine objektive nüchterne Plattenbeschreibung sein – es verbietet sich schlicht. Hier geht es um so wesentlich viel mehr, als nur um eine Jubiläumsplatte. Pearl Jam feiern ihr 20-jähriges im gleichen Jahr, in dem es auch das Jubiläum von Nevermind zu feiern gilt. Jenem Album, das für viele meiner Altersgenossen eine Art Erweckungsereignisse bescherte. Nevermind richtete für viele die Antennen, aber in meinem Fall, und da kommen wir zum feinen Unterschied, waren es immer Pearl Jam, die über Nirvana und Grunge hinaus die tatsächlichen Botschaften sendeten. Und mehr als das…

{image}Sicher war es Nirvanas Smells Like Teen Spirit, das jede Keller-, JUZ-, Schul- etc. Party zum Eskalieren brachte, aber es waren Pearl Jams Alive und Black, die bei derlei Anlässen wirklich unter die Haut und ganz tief in Kopf und Herz gingen – Fleisch wurden. Wer einmal bei einem Pearl Jam-Konzert war, weiß was ich meine. Es hat seinen Grund, warum diese Band eine der treuesten, aufrichtigsten und intensivsten Fangemeinden der Welt hat: diese Band ist echt! So echt, dass es manchmal weh tut – wenn sie sich beispielsweise zum ersten Höhepunkt ihrer Laufbahn komplett aus der Öffentlichkeit zieht, abtaucht, verschwindet. Um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das, was sie am besten kann und was eine globale Clique verrückter Vedder-Gossard-Ament-Mccready-Fans am meisten braucht: ungekünstelte, leidenschaftliche, bodenständige, moralisch glaubwürdige, handgemachte Rockmusik. So unbedingt, dass es wohl kaum eine Band der Welt gibt, von der es so viel (frei verfügbares) Soundmaterial zu finden gibt – produziert, mitgeschnitten verbreitet von Fans, die jeden Ton, den diese Band von sich gibt, sammeln, verbreiten, feiern, aufsaugen und nicht mehr loslassen. Ganz im Sinne und mit dem Einverständnis der Band. Kompromisslos offen!

Video: Pearl Jam Twenty from Pearl Jam on Vimeo.

Der Soundtrack zum seit Ende Oktober weltweit auf DVD erhältlichen Film "Pearl Jam Twenty" (→ IMDb) von Regisseur Cameron Crowe knüpft genau daran an. Hier geht es nicht um HiFi-Fetischismus oder glattgebügelten Selbstbeweihräucherungs-Sound. Hier geht es um den direkten Zugang zu dieser Band. Hier werden nicht jene bedient, die nach der Hitsingle Fixer meinten, sich posthum (R.I.P. Grunge?) etwas alternativen Flavour ans Revers sprühen zu müssen – this is not for you! Hier geht es um wahrhaftigen Stallgeruch, binaurale Bestätigung für all jene, die es über all die Jahre gar nicht erst versucht haben, mit Worten zu erklären, warum sie diese Band so unerschütterlich und bedingungslos vergöttern. Wer nach Ten aufgehört hat, diese Band zu lieben, hat nie wirklich begonnen…

{image}Schon mit dem ersten Song kommt alles wieder hoch: Release – jener Song, der dem Mainstream "Jeremy-Alive-Even Flow"-Hörer eher entgangen sein dürfte, er war es, der mich nicht mehr loslassen wollte. Die anderen waren nur Geplänkel, intensiver Tanz ums goldene Kalb, das damals Grunge hieß und zurecht recht schnell (aus)geschlachtet wurde von jenen künstlichen Gottheiten, die später auch Kurt auf dem Gewissen haben sollten – nennen wir sie stellvertreterhaft MTV und VIVA und ihr Publikum. Release bedeutete tatsächlich Befreiung aus unterhaltungsmusikalischer Lethargie und jugendkulturellem Stumpfsinn zwischen "Chevan"-Jeans und "Blue-System"-Pullis. Dass Alive erst als zweiter Track in einer an die Jugendzentrums-Band-von-nebenan-erinnernde-Version auf der Platte ist, ist bezeichnend für diese Band. Sie macht keinen Hehl daraus, dass dieser Song zwar der Beginn von allem war, aber auch das größte Problem darstellte.

{image}Großer Erfolg in jungen Jahren, zerbrechliche Seelen und das große Monstrum "Medienindustrie" passen nicht gut zusammen. Der Song war lange off setlist – entsprechend monumental jeder Publikums-Chor zwischen den Zugabensets, wenn der Refrain "oh I'm so alive" zum Synonym wird für: "Wir wollen mehr vom Leben, mehr von euch in unserem Leben".

Wir wollen aus der Tiefe unseres Herzens wissen wie es klingt, wenn Eddie und Stone ihre ersten Songwriting-Jams machen (Acoustic #1), wenn das Publikum von New York Betterman alleine singt, wenn Matt Cameron eine Songskizze namens Need To Know aufnimmt, die dann von der Band zu Fixer verwandelt wird. Und noch vieles vieles mehr. Ich könnte hier über jeden Song eine persönliche Geschichte schreiben, die da draußen wahrscheinlich niemanden juckt – doch es würde zuviel.

{image}Aber sagen muss man auf jeden Fall dieses: Dieses Album schafft dank der feinfühligen Auswahl von Cameron Crowe, der die Musik für den Jubiläums-Bandfilm zusammenstellte, einen ganz besonders intensiven Zugang zu der vermeintlich bekannten Band. Hier hört man all die Fehler, die man mit der eigenen Band bei den wildesten Gigs auch macht – am Instrument, am Mik, im Überschwang. Hier hört man, dass jene Helden beim Songschreiben und Skizzen festhalten auch auf Perfektion und Gefallen-Wollen nicht den leisesten Fuck geben und noch viel wichtiger: Sie kochen auch nur mit Wasser. Da greift mal einer daneben, das Tuning der Klampfe ist im Sack, die Stimme zerbricht, etc… und wir dürfen dem Ganzen so nah wie noch nie zuvor sein, noch näher und ungekünstelter als in der Videodoku zu den Yield-Sessions – kann man sich das eigentlich vorstellen?

Ich liebe diese Band ...a human being that was given to fly...

Hear-and-Feel-Tips:

CDs:
NoCode
Riot Act
Yield
Backspace

Der Einstieg via Compilations:
Rearviewmirror (Greatest Hits)
Lost Dogs (Rarities)
PJ20 (ungeschöntes Leben)

DVDs:
Single Video Theory
Imagine in Cornice

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