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Manic Street Preachers (live in Hamburg, 2016) © Falk Simon

Ende April 2016 spielen die Manic Street Preachers bei ihren zwei Konzerten in Köln und Hamburg ihr Meisterwerk "Everything Must Go" in Gänze. Wir sprachen mit Leadsänger James Dean Bradfield über die Entstehung des Albums, den Wandel der Musikkultur seit den 1990ern und seine Liebesbeziehung zu Deutschland.

regioactive.de: Du wirst mit den Manic Street Preachers in Kürze mit "Everything Must Go" auf Tour gehen, einem Album, das von vielen für euer bestes Werk gehalten wird. Ich denke aber, dass eure Gefühle bezüglich des Albums komplizierter und ambivalenter sind und kein reines Erfolgserlebnis darstellen.

James Dean Bradfield: Ich bin mir nicht sicher. Es ist sicherlich unser "klassischstes" Album und in dieser Hinsicht vielleicht zeitloser als unsere anderen Werke. Es ist vielleicht überraschend, aber ich verbinde damit keine ambivalenten Gefühle oder Erinnerungen, sondern empfinde großes Vergnügen dabei, das gesamte Album zu spielen. Das liegt daran, dass "Everything Must Go" ein offeneres und musikalischeres Album ist als "The Holy Bible" – und auch als solches konzipiert wurde. Es fühlt sich sehr unkompliziert und geradlinig an.

regioactive.de: Der tragische Tod von Richey James Edwards hat also keinen Einfluss auf deine Wahrnehmung des Albums? (Richey James Edwards schrieb die Mehrzahl der Texte auf den frühen Manic Street Preachers-Alben. Er verschwand am 1. Februar 1995 in der Nähe der Severn Bridge an der Grenze von Wales und England spurlos. Es wird vermutet, dass er Selbstmord begangen hat. Seine Leiche wurde nie gefunden. 2008 wurde er für tot erklärt.)

James Dean Bradfield: Nein. 1996 und 1997 war das etwas anderes. Als ich nach einem großen Konzert vor zehntausend und mehr Zuschauern in mein Hotelzimmer zurückkehrte, habe ich bedauert, dass er nicht auf der Bühne dabei sein konnte. Im Vorfeld zu "Everything Must Go" gab es allerdings viel Drama mit Richey und wir wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten, weil wir zu jung waren. Als Richey verschwand, erreichte die gesamte Krise einen Höhepunkt, die natürlich schlimme Auswirkungen auf uns hatte. Der dann mit "Everything Must Go" einsetzende Erfolg hat wirklich sehr unterschiedliche Emotionen hervorgerufen. Natürlich haben wir Richey vermisst und gewünscht, dass das alles miterleben könnte, aber wir waren auch sehr erleichtert, dass die Dinge sich endlich in eine positive Richtung entwickelten.

regioactive.de: Das Album ist also ein Beispiel dafür, wie große Kunst unter sehr schwierigen Bedingungen entsteht.

James Dean Bradfield: Ich denke schon. Es ging darum, ob wir als Band ohne Richey weiter existieren konnten. Wir haben ohne Richey mehr Platten verkauft als mit ihm, aber wir haben immer gespürt, dass wir auch mit ihm diesen Erfolg gehabt hätten. Im Rückblick fühlt sich diese Zeit viel einfacher an. Viel Zeit ist vergangen. Man kann nicht bestreiten, dass ich immer noch Richeys Texte singe: "Kevin Carter" und "Small Black Flowers That Grow In The Sky" hat er geschrieben.

regioactive.de: Die 1990er Jahre zeichneten sich durch einen seltsamen Optimismus auch, gerade auch in der britischen Musik. Heute hingegen habe ich den Eindruck, das nicht mehr so ist. Siehst du das auch so?

James Dean Bradfield: Im Hinblick auf Gitarrenmusik, die aus einer Indie-Ästhetik geboren wurde: auf jeden Fall. Die britischen Charts werden von Pop dominiert und lassen wenig Raum für Indie-Rock. Darüber hinaus werden die meisten Acts heutzutage von Plattenfirmen und Produzenten zusammengestellt, geschaffen und kontrolliert. In den 1990ern war die Situation völlig anders. Bands wie die Happy Mondays, Stone Roses, Oasis, Blur, Radiohead und wir dominierten die Charts in Großbritannien. Es war großartig, aber es fühlt sich an, als wäre das vor Ewigkeiten gewesen.

regioactive.de: Wessen Fehler ist das? Sind die Plattenfirmen schuld?

James Dean Bradfield: Man kann nicht mit einem Finger auf einen Schuldigen zeigen. Wenn diese Popacts so viel Erfolg haben, dann liegt es vermutlich daran, dass die Leute das wollen. Es liegt am Wandel des Zeitgeists, am Wandel von Wahrnehmungen und Wünschen des Publikums. Natürlich werden Plattenfirmen jede Chance ergreifen Geld zu verdienen, aber es sind nicht nur sie. Wir leben in einer Ära des Massenkonsums, wo Leute einzelne Songs, aber nicht Alben konsumieren, was durch Downloads und Streams sehr leicht geworden ist. Es gibt natürlich Ausnahmen wie Adele, die Alben in riesiger Zahl verkauft.

regioactive.de: Hat das eure Arbeitsweise beeinflusst?

James Dean Bradfield: Unsere Art und Weise Musik aufzunehmen, hat sich überhaupt nicht geändert. Wir werden uns nie verändern. Manchmal verschieben sich bandintern die Gewichte ein wenig, Nicky schreibt dann etwas mehr Musik und ich mehr Texte oder wir laden Gastsänger ein, weil Sean und Nicky meine Stimme nicht mehr ertragen können. (lacht). Aber grundsätzlich schreiben wir keine Musik mit Kollaborateuren, seien es professionelle Songwriter oder Mitglieder anderer Bands. Das werden wir niemals machen.

regioactive.de: Eure größten Erfolge habt ihr in Großbritannien gefeiert, aber auch in Deutschland wart ihr im Verlauf der Jahre sehr erfolgreich. Wie stehst du dazu?

James Dean Bradfield: In jungen Jahren habe ich Großbritannien nie verlassen und verfügte dementsprechend auch über wenig Reise- oder Flugerfahrung. Das hat sich erst geändert, als ich mit der Band auf Tour außerhalb Großbritanniens ging. Ich kam erstmals 1991 nach Deutschland – und habe das Land nicht verstanden. Meine Eltern liebten Deutschland und waren häufig dort. Sie erzählten mir, was für ein großartiges Land es sei, aber ich war irritiert: Die Zuschauer verhielten sich ganz anders, die Journalisten ebenso – und das Essen war natürlich auch anders. Ich habe mich einfach nicht wohlgefühlt, auch weil ich so unerfahren war. Ab dem Jahr 1995 habe ich mich in Deutschland verliebt, ohne es zu merken. Ganz besonders liebe ich an Deutschland, dass es seine Identität bewahrt hat und dennoch ein unbestreitbar modernes Land ist. Es gibt eine solche Vielfalt regionaler Identitäten, die sehr unterschiedlich sind. Insgesamt besitzt Deutschland ein Gleichgewicht zwischen Tradition and Modernität.

regioactive.de: Wie unterscheidet sich das Publikum? Ich stelle mir vor, dass das britische Publikum die ganze Zeit mitsingt und sehr enthusiastisch ist. In Deutschland sind die Zuschauer vermutlich etwas zurückhaltender.

James Dean Bradfield: Da ist schon etwas dran. In Großbritannien sind Konzerte ziemlich feucht-fröhliche Angelegenheiten, es gibt viel Körperkontakt – eine ziemlich einzigartige Erfahrung. Die Deutschen nehmen Musik analytischer wahr – und in Konzerten brauchen sie eine gewisse Zeit, um in Fahrt zu kommen. Aber wenn es ihnen gefallen hat, zeigen sie ihre Begeisterung am Ende. In Deutschland steigern sich die Shows eben etwas mehr.

regioactive.de: Wir sind gespannt auf eure Konzerte. Herzlichen Dank für das Interview.

Update, 27. April: Hier geht es zum Bericht aus Köln und den Bildern aus Hamburg.

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