"An alle, die uns gefolgt sind."

So lautet die Überschrift zum kurzen Statement, mit dem sich Veranstalter Marek Lieberberg am Tag nach dem Festival für ein weiteres Jahr von der Rock am Ring Familie verabschiedet. Und gefolgt sind sie ihm alle, sowohl die Fans als auch viele Künstler. Es ist vielleicht ein wenig rührselig, bei einer hochkommerziellen Veranstaltung wie dem größten Festival Deutschlands von einer Familie zu sprechen – allerdings kommt diese Beschreibung dem Gefühl ziemlich nahe, das man als eingeschworener Ring-Fan nach einigen Jahren für "sein“ Festival entwickelt.

Auch wenn Rock am Ring schon seit Jahren im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, 2015 überschlugen sich die Berichterstattungen schon im Vorfeld. Grund dafür ist natürlich der Umzug des Festivals vom traditionsreichen Nürburgring auf das alte Flugplatzgelände am Rande des kleinen Örtchens Mendig, nur etwa 30 Kilometer von der alten Location entfernt. Aufgrund von Streitigkeiten mit dem neuen Betreiber des Nürburgrings musste sich Rock am Ring gerade für sein 30-jähriges Jubiläum ein neues Zuhause suchen, hinzu kam noch der Wirbel um das Konkurrenzfestival Grüne Hölle aka Der Ring – Grüne Hölle Rock aka Rock im Revier.

Wir haben über die Streitigkeiten ausführlich berichtet und viel mehr soll über diese Seifenoper hier auch nicht mehr verloren werden. Auch wenn im Vorfeld ein unglaublicher Wirbel um den "Krieg der Festivals“ ausgebrochen ist, im Endeffekt entscheiden die Zuschauer. Wer an diesem Wochenende in Mendig ist (und mitbekommen hat, wie die einstige "Grüne Hölle“ eine Woche zuvor ganz unspektakulär verpufft ist), der sieht eindeutig: Sie haben sich entschieden.

Mittwoch / Donnerstag: Die Anreise

Der Umzug einer solchen Großveranstaltung wie Rock am Ring bringt einen unvorstellbaren Organisationsaufwand mit sich. Wie schwierig die Planung des neuen Geländes für alle Beteiligten war, stellt sich bereits am Mittwoch heraus, als unglaubliche 50.000 Ringrocker zum Festival anreisen und die ersten Campingflächen an ihre Kapazitätsgrenze kommen. Kalkuliert wurden mit den behördlich vorgeschriebenen 5qm Fläche pro Person, in der Praxis stellt sich diese Hochrechnung allerdings als Fehlplanung heraus.

Die Veranstalter reagieren prompt und stellen zusammen mit den örtlichen Landwirten rund um das Gelände weitere 30 Hektar Campingfläche und zusätzliche Parkplätze bereit, die schon am nächsten Tag komplett erschlossen sind. Hier hatten Helfer und Organisatoren eine lange und schlaflose Nacht, Chapeau für diese schnelle Nachrüstung!

Das Schotterfeld des Todes

Das neue Gelände weist gerade im Bezug auf Campen und Parken noch einige Mängel auf: Die Strecke zwischen Parkplatz und zugehörigem Campingplatz ist durchschnittlich etwa 2 Kilometer lang, jedes Gepäckstück muss also über diese Strecke hinweg transportiert werden. Viele helfen sich mit Sackkarren oder Bollerwagen, doch hier tut sich bald ein weiteres Problem auf: Etwa in der Hälfte der Strecke befindet sich ein großes Schotterfeld, an dem die meisten Transportmittel scheitern. Vielen bleibt nichts anderes übrig, als alle schweren Gepäckstücke (wie etwa Kühlschränke!) zu tragen. Bis alles auf dem Campingplatz angekommen ist, sind viele mit den Nerven am Ende.

Ein Facebook-User bringt die Sache auf den Punkt: "Bester Strongman-Lauf des Jahres! Besonders genial der Schotter-Parcours, der beim Bollerwagen-Ziehen die Spreu vom Weizen trennt. Auch die Länge der Strecke war mehr als in Ordnung, das monatelange Ausdauertraining hat sich gelohnt! Vorschläge für's nächste Jahr: Wasserlöcher, Holzmauern, noch engere Durchgänge für noch mehr Körperkontakt!"

Zitat des Tages: "Brauchen wir noch...." - "NEIN! Lass es im Auto"

Der Freitag: Hitzeschlacht, Auftakt und ein dickes Ende

Spätestens am Freitag sind dann die Strapazen der Anreise vergessen, das Camp steht, das Bier läuft, die Vorfreude steigt. Mit ihr: die Temperaturen. Die Sonne brennt schon vormittags vom Himmel, in den Zelten hält es seit 8 Uhr morgens sowieso niemand mehr aus, wer ein schattiges Plätzchen findet, verkriecht sich und fristet sein verschwitztes Dasein.

Um 12:30 Uhr öffnen zum ersten Mal die Tore des neuen Festivalgeländes, und die ersten neugierigen Besucher erkunden ihr Terrain. Bevor die Donots Rock am Ring offiziell eröffnen, gibt es noch eine Ansprache von Marek Lieberberg, der auch zu den bestehenden Problemen Stellung nimmt: "Wir wissen, dass es schwierig ist! Wir sind auf dem Gelände unterwegs und haben alle Probleme genau im Blick. Gebt uns einfach etwas Zeit, uns einzugrooven."

Grandioses Konzertgelände

So viel über die Camping-Situation gemeckert wird, das Konzertgelände ist ohne Zweifel grandios. Die beiden Hauptbühnen stehen parallel zueinander, das Gelände ist extrem weitläufig und ohne große Engstellen. Ein schneller Wechsel zwischen den Hauptbühnen funktioniert so problemlos. Anders als am Nürburgring ist der Zugang zu den vorderen Bühnenbereichen bis zum späten Abend ohne ewiges Anstehen möglich. Zone A – für viele Besucher in den Jahren davor nur ein Mythos, jetzt kann sich jeder das Hautnah-Erlebnis gönnen.

Nach dem Auftakt der Donots scheint die Volcano Stage der Treffpunkt eines Herrenclubs auf Ausflugsfahrt zu sein gegen den kaum eine andere Bühne ankommen kann: Die Donots sind mit den Broilers befreundet (Sammy besucht sie natürlich bei ihrem Auftritt), die Broilers sind mit Bad Religion befreundet, Rise Against mögen sie auch alle und Die Toten Hosen haben die meisten Freunde –und setzen dem Punk-Abend die Krone auf. So sehr sich etwa Clueso oder Tocotronic auch bemühen, die meisten Zuschauer bleiben der Hauptbühne treu und fiebern dem Auftritt von Campino & Co. entgegen.

Die Hosen spielen ein extrem kraftvolles Set mit vielen alten Klassikern, das so manchem Fan-Urgestein das Herz höher schlagen lässt. Unumstrittenes Highlight ist die bewegende Hommage an ihren im Januar verstorbenen Manager Jochen Hülder. Campino stockt merklich die Stimme, als er den Song "Nur zu Besuch" ankündigt: "Dies ist der erste Auftritt, den wir ohne Jochen bestreiten müssen. Wir vermissen ihn unendlich."

Zitat des Tages: "Freut ihr euch schon auf unsere Freunde, Die Toten Hosen?"

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Ende mit Schrecken

Während des Abends ist der Wind merklich stärker geworden, jeder diskutiert über das angekündigte Gewitter – kommt es oder kommt es nicht? Oh, es kommt! Zu den letzten Klängen von "You'll Never Walk Alone" setzen Platzregen und Hagel ein, die meisten Besucher flüchten sich auf die Campingplätze oder ins große Alterna-Zelt. Die erste Front zieht vorbei, viele feiern auf dem Gelände weiter beim Auftritt von Marilyn Manson oder inspizieren die nasse Camping-Ausrüstung.

Lange hält die Ruhe nicht, denn gegen 01:30 Uhr trifft das erste richtige Gewitter das Festival, ein Blitz schlägt in den Backstagebereich einer Bühne ein und verletzt einige Mitarbeiter. Der Sturm zerfetzt Pavillons und Zelte, Müll fliegt durch die Luft und alarmierte Ordnungskräfte stürmen über die Campingplätze und montieren zusammen mit den Besuchern hohe Metallgegenstände wie etwa Fahnenstangen ab. Spätestens jetzt wird jedem klar: Das hier ist Ernst! Die zweite Gewitterfront trifft dann gegen 03:30 Uhr ein, zwei Blitze schlagen ins Zeltplatzgelände ein.

Samstag: Der Morgen danach

Am nächsten Morgen ist erst einmal Bestandsaufnahme angesagt. Die meistgestellte Frage lautet hier nicht "Was ist weggeflogen?", sondern "Was steht noch?" Langsam sickern die Infos über die Blitzeinschläge durch, besorgte Nachrichten und Anrufe kommen durch das überlastete Handy-Netz. Viele merken erst jetzt, wie gefährlich die letzte Nacht überhaupt war.

Trotz des ganzen Chaos muss hier eine Sache festgehalten werden: Die Ringrocker halten zusammen. Pavillons werden mit Gaffa wieder zusammen geschustert, man hilft sich gegenseitig, via Facebook werden trockene Schlafsäcke, Decken und intakte Zelte angeboten. Auch Marek Lieberberg zeigt sich auf der Bühne und versichert, dass alle Verletzten noch am selben Tag aus dem Krankenhaus entlassen werden können. Rock am Ring hat die Gewitternacht also Gott sei Dank glimpflich überstanden.

Zitat des Tages: "Hat jemand ne trockene Unterhose für mich?"

Musikalisch ist der Samstag fest in deutscher Hand, die Crater Stage mutiert kurzerhand zur Deutschrap-Bühne, auf der sich etwa Zugezogen Maskulin, die Antilopen Gang, Trailerpark, Prinz Pi und K.I.Z. die Klinke in die Hand geben. Nein, an dieser Stelle keine Abhandlung über das "Rock" in Rock am Ring, diese Diskussion ist so alt wie die Menschheit (oder wie das Festival selbst) und auch genauso nervtötend. Wer heutzutage noch in einem einzigen Musikgenre festhängt und sich allein davon beschallen lassen möchte, der kann das zu Hause mit Papas Stereoanlage machen.

Für alle, die bei "Hurensohn" von K.I.Z. keine feuchten Augen bekommen, gibt es genug Alternativen. Aber lasst euch gesagt sein, die Elton John-Version war wunderschön. Den genialsten Abriss feiern aber sicherlich Kraftklub auf der Volcano-Stage, die sich sogar mit einem Wagen quer durchs ganze Publikum fahren lassen. Sänger Felix sucht spontan noch ein Plätzchen zum Schlafen: "Wir sind ungeduscht. Seit mehreren Tagen haben wir unsere Körperhygiene sträflich vernachlässigt. Würdet ihr uns trotzdem in eurem Zelt übernachten lassen?" Oh, das würden sicher einige.

Der Sonntag: Einmal von allem bitte!

Das Schwierige bei Rock am Ring ist ja, dass es so viele gute Acts gibt, dass man sich gar nicht entscheiden kann, wen man am liebsten sehen möchte. Und: Dass auch grandiose Künstler wie Frank Turner am frühen Nachmittag auftreten müssen und eine dreiviertel Stunde plötzlich wie im Flug vergeht. Der Engländer hätte eigentlich bereits am Freitag spielen sollen, wurde aber wegen der Erkrankung von Hozier auf den Sonntagmittag verlegt. Direkt vor der größten Bühne in der Sonne sitzen, Eis essen und "The Way I Tend To Be" hören wird dringend zur Nachahmung empfohlen!

Der Sonntag hat noch einige Highlights im Programm, die meisten Besucher strömen zum Konzert der Beatsteaks vor die Hauptbühne. Die Berliner sind schon lange ein Urgestein der deutschen Festivallandschaft und auch mit Rock am Ring untrennbar verbunden (man erinnere sich nur einmal an den Geheim-Auftritt vor 2 Jahren!).

Gegen die Foo Fighters kommen sie an diesem Abend allerdings nicht an. In einem zweieinhalb-stündigen Mörder-Set spielen sie nicht nur ihre eigenen größten Hits, sondern covern sich auch noch eindrucksvoll durch einige Klassiker der Rock-Geschichte. Großartig: die Version von Queen & David Bowies Megahit "Under Pressure". Noch großartiger: Das Geburtstagsständchen für Eagles of Death Metal-Gitarristen Dave Catching, der sich seine Glückwünsche auch gleich persönlich abholt. Der einzige große Wunsch, der wie immer unerfüllt bleibt: Wieder einmal ist Dave Grohl sein minzfrischer Atem wichtig, er hat sein Kaugummi natürlich nicht vorher ausgespuckt.

Abriss und Abreise

Ein leidiges Thema ist jedes Jahr wieder: Wer spielt Sonntag als letztes? Dieses Mal hat es Slipknot getroffen, und natürlich sind viele darüber nicht begeistert. Aber sind wir mal ehrlich, irgendjemand muss es ja machen.

Für einen würdigen Abriss hat man sicher nicht die falsche Band gewählt: Wer das Spektakel der Masken-Truppe kennt und liebt, bleibt dafür auch gerne bis tief in die Nacht, wer nichts damit anfangen kann, tritt halt früher die Heimreise an. Die verläuft genauso problemlos wie die Anreise: Das neue Gelände verfügt über eine weitaus bessere Infrastruktur und Verkehrsanbindung, dadurch entstehen keine Rückstaus auf den Zufahrtsstraßen der Parkplätze.

Zitat des Tages: "Bleibt ihr noch oder fahrt ihr schon?"

Ja, sie sind ihm wirklich gefolgt

Auch wenn die Jubiläums-Ausgabe von Rock am Ring am neuen Standort mit einigen Problemen zu kämpfen hatte: Im Nachhinein sind sich alle Besucher einig, das Festival war trotzdem ein voller Erfolg. Weder Marek Lieberberg noch viele der Bands sind es müde geworden zu betonen, dass der Spirit eines Festivals nicht von der Location abhängt, dass der "Geist" von Rock am Ring nicht am Nürburgring geblieben ist.

An diesem Wochenende hat man allerdings gemerkt, dass das keine leeren Phrasen sind. Rock am Ring ist so gigantisch, schräg, packend und ermüdend wie eh und je. In Mendig more than ever. Im nächsten Jahr bitte ohne Schotterfeld.

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