Kettcar (live in Hamburg, 2008)
Foto: Holger Nassenstein

Kettcar (live in Hamburg, 2008) Foto: Holger Nassenstein © regioactive.de

An die alte Tradition der Soul-Weekender anknüpfend, wagte sich die Zeitschrift Rolling Stone in Verbindung mit Veranstalter FKP Scorpio an ein neues Festivalkonzept, das in der Ferienanlage Weißenhäuser Strand an der Ostsee, einer Anlage, in der bis zu 4.500 Besucher untergebracht werden können, etabliert werden soll. Als Headliner konnte der Weekender mit Wilco und The Flaming Lips zwei echte Leckerbissen aufbieten und lieferte insgesamt eine tolle Premiere ab.

{image}Dass beide Bands keine weiteren Deutschlandshows im aktuellen Tourplan haben, dürfte für viele Besucher ein Argument für den Besuch gewesen sein. Aber auch das weitere Line-Up hielt attraktive Acts bereit – von Kettcar mit Streichern, über The Raconteurs-Mitglied Brendan Benson, I am Kloot, Gov’t Mule oder The Soundtrack Of Our Lives – wer sich in der musikalischen Bandbreite von der deutschen Ausgabe des Rolling Stone gut wiederfindet, für den war dieses Programm ein gelungener Zuschnitt. Auf drei Bühnen, von der großen Zeltbühne bis hin zu dem intimen Witthüs, liefen parallel die Shows, zwar mit teilweise ärgerlichen Überschneidungen, ohne die ein attraktiv besetztes Festival aber naturgemäß nicht auskommt.

Der Freitag

{image}Neben Stardeath And The White Dwarfs und The Postmarks auf den beiden kleineren Bühnen wurde der Freitagabend auf der Zeltbühne von Kettcar eröffnet, die im Akustikgewand mit Streichern daherkamen, und zu einem Zeitpunkt auf die Bühne mussten, als sicherlich noch viele der insgesamt knapp 2.500 Besucher bei der Anreise waren. Als The Soundtrack Of Our Lives dann als zweite Band auf die große Bühne traten, füllte sich das Zelt immer noch. Mit ihrer bewährten Mischung aus Stonesgitarren (ca. 1969), Analog-Keyboardsounds und mächtigen Beats wurden sie vom Publikum dankbar empfangen. Live sind die Schweden um keine over-the-top-Pose verlegen: Es kreisten die Drumsticks in den Händen, Gitarren wanderten auf den Rücken und über den Kopf, selbst Tamburine wurden nicht nur in die Luft geworfen, sondern auch wieder aufgefangen!

Wer es gern eine Nummer kleiner, aber nicht weniger beeindruckend, haben wollte, kam dann in dem kleinen Witthüs bei James Yorkston & The Big Eyes Family Players auf seine Kosten. Auf der winzigen Bühne sitzend war das Ensemble zwar nur für die ersten Reihen zu sehen, zu hören gab es dafür feinen, liebevoll instrumentierten und gespielt/gesungenen Folk, dem zwischenzeitlich die zuweilen wunderbar entrückt wirkende schottische Sängerin Mary Hampton Yorkston glatt die Show stahl. Die Zuschauer, die lieber tanzbare Musik erleben wollten, mussten sich zwischen Kashmir und den Editors entscheiden, die parallel auf den größeren Bühnen auftraten. Zwischenzeitlich bot sich auch die Option, einer überaus unterhaltsamen Lesung von Heinz Strunk im Rondell beizuwohnen.

Gov’t Mule hatten dann einen undankbaren Slot, der von Brendan Benson einerseits und von dem Tagesheadliner The Flaming Lips überlagert wurde. Ihr Auftritt vor schätzungsweise 150 Zuschauern in dem Baltic Festsaal war eine enttäuschende Kulisse und die Tatsache, dass die Band, die für ihre Mammutkonzertlängen bekannt sind, nach ca. 90 Minuten bereits die Show beendeten, spricht da Bände. Aber auch Benson war im kleinen Witthüs eher deplatziert. Zwar passte seine Band gerade mal so auf die Bühne, der Raum erwies sich aber als eher ungeeignet für eine elektrische Rockshow – kaum einer konnte etwas sehen und der Sound war laut und undifferenziert.

{image}The Flaming Lips sind für ihre einzigartige Liveshow seit langem bekannt. Das beginnt mit einer Bühne, auf der alle Elemente in gelb-orange gehalten sind: von zwei riesigen Konfettikanonen am Bühnenrand über eine riesige halbrunde Projektionswand über der Bühne bis zu den orange gekleideten Roadies, die aus ihrer Tätigkeit bereits eine Show machen. Sänger Wayne Coyne lässt es sich nicht nehmen, den Soundcheck höchst selbst vorzunehmen – wo andere Stars sich durch eine solche Aktion Sorgen um den Effekt des späteren, echten Auftritts machen würden, kann er ganz beruhigt sein: der tatsächliche Auftritt wird dann so spektakulär, dass wohl keiner im Publikum einen Mangel an Effekten wahrnehmen würde. Dieser wird eingeleitet durch die Projektion einer tanzenden nackten Frau, in gelb-orange natürlich, vor blauem Hintergrund, die nach einer Weile in der Unterleibsregion zu pulsieren beginnt, sich in Gebärhaltung begibt und dann aus der eingezoomten Vagina die Bandmitglieder entlässt. Klar – Embryonic heißt ihr neues Album. Wayne Coyne schreitet als letzter aus der sich spaltweit öffnenden Projektionswand und steigt sogleich in eine sich aufblasende durchsichtige Plastikkugel, in der er sich dann auf eine Reise über die Köpfe des Publikums begibt. Innerhalb der nächsten 5 Minuten nach Ausstieg aus der Kugel tanzten dann zu Race for the Prize unzählige Riesenluftballons (gelb und orange natürlich) über den Köpfen der Fans und die Konfettikanonen lieferten einen Dauerbeschuss mit – you guessed it – gelben und orangenen Papierschnipseln. Das war Partystimmung extraordinaire, die die Musik der Flaming Lips glatt sekundär erscheinen lässt. Dieses Erlebnisniveau lässt sich natürlich nicht über die komplette Länge der Show halten, auch wenn die ins Publikum geworfenen Ballons immer größer und später auch mit Konfetti gefüllt wurden. Wer nach dieser Party immer noch fit war, hatte die Möglichkeit im Witthüs noch bis in die Morgenstunden zu feiern. Ein Angebot, das einige – ihren Gesichtern am Samstagmorgen abzulesen – wohl dankbar angenommen haben!

Der Samstag...

... begann für die einen früher, die anderen später – wer wollte konnte die Wellnessangebote der Ferienanlage nutzen, an den Strand gehen oder auch auf der Plattenbörse auf Schnäppchen- oder Raritätensuche gehen. Familien fanden auch gerade für die Kinder ein reichhaltiges Angebot zum Spielen, Toben oder Planschen. Hier zeigte sich die Wahl des Veranstaltungsortes als ein echter Gewinn, der dieser Art von Festival, das ja eher auf die Ü-30-Zielgruppe ausgerichtet ist, sehr gute Bedingungen bot. Leider musste Fritz Rau gesundheitsbedingt seine Lesung, die für den Nachmittag angekündigt wurde, absagen. Auch Katzenjammer konnten nicht auftreten – dadurch entstand so viel Luft im Programm, dass die Lesung von Frank Schäfer zu dem Thema Woodstock einen regen Zulauf bekam.

{image}I Am Kloot war die erste Band auf der Zeltbühne und überzeugten mit ihrem wie immer hervorragenden Sound und ihren feinen Songs. Parallel dazu boten Akron/Family in dem Baltic Festsaal eine spannende Mischung aus Rock, Folk und allerlei Sounds, die kaum klassifizierbar sind. Billy Bragg trat solo auf der großen Bühne auf und paarte seine Songs mit ausgiebigen Ansagen, die an manchen Stellen glatt zu lang gerieten. Besser machte es Ex-Aztec Camera Sänger Roddy Frame, dessen Verhältnis vom gesungenen zum gesprochenen Wort angemessener war. Im kleinen Witthüs trat zwischendurch Brett Dennen, ein Songwriter aus San Francisco, begleitet von Keyboard und Drums, auf. Dennen ist ein großgewachsener Rotschopf mit einer unbeschreiblichen Frisur, einer (un-)passenden Brille und trat barfuß auf. Very kinky indeed, aber auch sehr charmant auf seine Weise.

Der Weekender ging auf seinen Höhepunkt zu, der Auftritt von Wilco wurde der krönende Abschluss des Festivals. Das Sextett um Mastermind Jeff Tweedy legte gleich mit Wilco los und begeisterte vom ersten Ton an. Die kommenden 90 Minuten waren von einer Euphorie geprägt, die, anders als bei den Flaming Lips, nicht nachließ, sondern über das ganze Set hinweg getragen wurde. Es war ein Set, das auf die Hits der letzten vier Alben setzte, auf ruhige Nummern eher verzichtete und stattdessen mit den eingängigen und auch den eher sperrigen Songs wie Bull black nova oder Spiders (Kidsmoke) punktete. Ein weiterer Höhepunkt bestand in dem gemeinsam mit Billy Bragg vorgetragenen California Stars aus dem gemeinsamen Woody Guthrie–Projekt Mermaid Avenue. Wilco bewiesen an diesem Abend spielend, dass sie zu den derzeit besten Bands der Welt gehören, im Vergleich zu den Headlinern am Vorabend brauchten sie nicht die große Show, um damit die Musik zu übertreffen. Sie schöpften musikalisch aus den Vollen und machten das mit einer Leichtigkeit und Lockerheit, die eine Band wie Gov’t Mule dagegen wie eine bemühte Muckerkapelle aussehen ließ.

Alles in allem ist das Konzept des Weekenders sehr überzeugend. Abgesehen davon, dass wohl keiner im November gerne campen wollte, wurde ein Klientel angesprochen, das sonst vielleicht nicht mehr unbedingt auf Festivals fahren würde, aber hier ein Angebot fand, das auch durchaus familienfreundlich ist. 2010 soll der Weekender wieder stattfinden, es wurde das Wochenende um den 12.11.10 genannt. Ein Programm steht allerdings noch nicht.