Tom Schilling & The Jazz Kids

Tom Schilling & The Jazz Kids © Selective Artists

Tom Schilling & The Jazz Kids haben dieses Jahr ihr erstes Album „Vilnius“ rausgebracht, gerade touren sie damit durch Deutschland. Im Karlstorbahnhof in Heidelberg überzeugen sie mit einer starken zweiten Hälfte.

Es waren keine guten Wochen für die deutsche Popmusik. Erst versetzte Jan Böhmermann (oder war es doch Jim Pandzko?) ihr den Todesstoß, dann verpasste Bibi ihr mit einem Song, dem wohl nicht einmal Max Giesinger guten Gewissens etwas Realness zusprechen könnte, den allerletzten Arschtritt. 

Auf der Suche nach einem letzten Lebensfunken landen wir im Karlstorbahnhof, wo Tom Schilling mit seinen Jazzkids zeigt, wie Pop sein kann. Nämlich laut, rau, emotional, zynisch – und vor allem echt. Dass er dabei vor allem textlich, teilweise aber auch musikalisch stark an Element of Crime erinnert, kann niemand bestreiten. Aber das ist nicht alles.

Der Junge aus dem Film

Zur Klarstellung: Ich bin nicht hier, weil ich durch Zufall über die Musik gestolpert bin oder mich die Single-Auskopplung "Kein Liebeslied" so wahnsinnig berührt hat. Ich bin hier, weil vor den Jazz Kids eben der Name Tom Schilling steht.

Tom Schilling, wohl das beeindruckendste Gesicht des jungen deutschen Films, ist genau dort auf die Jazz Kids gestoßen, Jan Ole Gerster und "Oh, Boy" sei Dank. Ohne ihn wäre die Band Tom Schilling & The Jazz Kids nie entstanden, und "Vilnius" erst recht nicht. Aber first things first.

Mäßiger Start

Den Abend leiten Take A Trip aus Berlin ein. Der Sänger sieht aus als hätte er seine Uniformjacke aus der Requisite des Stadttheaters geklaut, um einen auf die frühen Libertines zu machen, während seine Stimme an Brandon Flowers von den Killers erinnert.

Take A Trip sorgen mit ihrem Indie-Rock für einen netten Start, wenngleich davon im Rückblick nicht mehr wirklich viel hängen bleibt. In einer ranzigen Raucherkneipe wirkt das Duo jedoch mit Sicherheit besser als im nur halbvollen Karlstorbahnhof, der eigentlich auf die Hauptband wartet.

Ein Hang zur Dramatik

Rein stimmlich gesehen ist Tom Schilling nicht der Allergrößte, doch er ist ein Meister der Inszenierung, weiß sich gut einzusetzen und vor allem sich selbst und die Band ins rechte Licht zu rücken. Die Jazz Kids, die weder Jazz spielen noch Kids sind, betreten die Bühne, etwas Nebel erscheint, Tom Schilling tritt erhaben auf die Bühne, sorgt mit einer simplen Handgeste für Ruhe im applaudierenden Saal. Die Vorstellung kann beginnen. Sein Auftreten steckt voll von Theatralik, seine Texte ebenso. Aufgesetzt? Vielleicht. Abgehoben? Nein, sondern eben perfekt in Szene gesetzt.

Es geht angenehm los, mit ein paar älteren Liedern, die auf dem Album "Vilnius" nicht zu hören sind. Dass das jedoch erst der Anfang und der Abend noch jung ist, zeigen sie mit dem ersten Lied vom Album. "Ja oder Nein", im Original mit Annett Louisan eingesungen, kann auf dem Album mit der geballten Ladung Schmalz/Romantik nicht überzeugen, aber live ohne Louisan klingt es gleich vielfach besser.

"Rasteryaev" gewährt einen kurzen Moment der Ruhe, mit Tom Schilling an der Gitarre nur begleitet vom Akkordeon, bevor die Band so richtig zeigt, was sie kann. "Kinder", das berühmte Lied von Bettina Wegner sorgt für Gänsehaut, es folgt "Kein Liebeslied", das in der Tat kein Liebeslied, aber umso liebenswerter ist. Danach spielen Tom Schilling und die Jazz Kids "Genug", das ordentlich brettert, aber noch lange nicht genug ist. 

Die "Ballade von René", eine gewaltige Junkie-Chronik, bietet den bisherigen Höhepunkt, während das darauf folgende Rio Reiser-Cover erneut einen Einblick in die Inspiration von Schilling gibt. "Ein Junge" bildet das fulminante Finale, die Band hat sich voll in Fahrt gespielt.

Elektronisches Ende

Dass die Band noch längst nicht am Ende ist, nur weil das Set sich selbigem nähert, zeigen sie in der Zugabe. Die beiden Closer des Albums fungieren auch hier als Schlusslicht. "Schwer dich zu vergessen" verbreitet eine melancholische Note, aber danach spielt sich die Band nochmals richtig in Rage.

"Kalt ist der Abendhauch" ist auf dem Album schon genial, live fragt man sich bei dem Elektrobeat tatsächlich, ob man gerade in die Techno-Afterparty gestolpert ist. Ein Song von einem einsamen Mädchen (für – Überraschung! – alle einsamen Mädchen da draußen), der entgegen seiner Thematik richtig reinhaut und sogar euphorisiert. 

Ein kleines Rausschmeißerle gibt es noch in Form einer zweiten Zugabe, danach ist tatsächlich Schluss. Dass Tom Schilling mehr Klasse in seinem kleinen Finger hat als so manch anderer im gesamten Körper, wussten wir schon. Aber es ist schön, dass er mit den Jazz Kids für einige unerwartete Überraschungen sorgen kann. Oh boy, da haben wir aber Glück, dass die sich gefunden haben. Die Musik der Band ist nicht nur absolut hörenswert, sondern vielleicht auch das rettende Erste-Hilfe-Pflaster auf dem Opfer "Deutsche Industriemusik".