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Fotos: Nicole Richwald © regioactive.de

Die nun in Berlin zu Ende gegangene Tocotronic-Tour hat nicht nur unsere Redakteurin und Fotografin Nicole Richwald, sondern auch viele bekannte alte und neue Gesichter aus ihren Küchen geholt. "Wir taumeln nur... R.O.C.K." sagte uns Arne Zank im Interview. Doch die Konzerte von Tocotronic hatten mit einem unsicheren Taumeln nur wenig gemein. So sahen das auch die Fans vor der Berliner Columbia-Halle.

Die Band Tocotronic, die sich 1993 in Hamburg zusammenfand und nach einem Gameboy-Vorläufer benannte, veröffentlichte damals – dank der Musikspione von L'age d'or – ihre erste Single Meine Freundin und ihr Freund. Viele junge Menschen fanden zu diesem Zeitpunkt ihre Lieblingsband. Die Musik war eine Mischung aus Energie und Melancholie, gepaart mit einem grundsätzlichen Dagegensein. In dem Begriff "Diskurs-Rock" hatte sie ihre Beschreibung gefunden. Musik und Text haben sich seit damals weiterentwickelt, nur die jungen Männer hier sind noch dieselben herzlichen Menschen wie damals. Mit Kapitulation veröffentlichten die mittlerweile auf Berlin und Hamburg verstreuten und in diversen Nebenprojekten aktiven Musiker ihr Album Nummer 8.

Das Abschlusskonzert der seit Oktober unermüdlich laufenden Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz in der Berliner Columbia-Halle, begann an diesem Abend mit einem alten Bekannten und Freund der Band: Troy von Balthazar, Sänger der mittlerweile seit viel zu langer Zeit auf Standby gestellten Chokebore. Mit seiner Solo-Performance und seinem Irrsinn wußte der Seefahrer auf den Wellen der Musik das Berliner Publikum zu irritieren. Die Autorin fand es super und war zugleich sehr amüsiert. So begann eine Songansage mit den Worten "this next song is not very good, the construct is not very strong and the lyrics don't make any sense to anyone at all, i'll play it anyway". Zu fortgeschrittener Zeit wurde Troy von der zarten Stimme der Französin Adeline Fargier begleitet, bevor das Konzert von Tocotronic mit dem Opener Mein Ruin begann.

Schlagzeug und Instrumente wurden auf der sehr grossen Columbia-Bühne bereits zu Beginn eng positioniert, während im Hintergrund die wechselnden Videoprojektionen fokussiert wurden. Wahrscheinlich entsteht hier ein neuer Arbeitsplatz im Tocotronic-Universum. Begonnen wurden die von Film-Noir-Zitaten, Foto- und Schrifteinblendungen geprägten Projektionen mit dem bereits vom aktuellen Cover bekannten Gesicht des "Portrait of Douglas Morgan Hall" des amerikanischen Malers Thomas Eakins, das mit gefeuchteten Augen recht emotionslos ins Dunkel blickt. Bei diesem Anblick fällt die Ähnlichkeit mit dem deutsch-amerikanischen Autonomen August Spies auf, der 1887 von einer korrupten Justiz zum Tode verurteilt wurde, aber damit nicht zugleich zum Schweigen.

Laut wurde es dann beim Protestsong Es ist egal, aber, bei dem das Publikum lauthals mitsang und tobte. Während Sänger Dirk von Lowtzow im Spot stand, wurde der Rest der Band ins Dunkel ausgefaded. Heerscharen von Fotografen nutzten nun die Gunst der Stunde, um im Bühnengraben ihr Foto des Abends zu kreieren. Abseits standen die Kameras auf Position, um diesen Abend zu dokumentieren. Anwesend war auch der Freiburg-Fanclub, der fordernd schrie, um am Ende mit jenem Song beglückt zu werden. Manche Dinge ändern sich eben nie. Mittlerweile sind wir an einem Höhepunkt des Abends angelangt: Zum ersten Mal wurde Free Hospital vom 2002er Album Tocotronic gespielt. Diese Liveperformance des Songs schreit nach einer Umsetzung auf Vinyl. Eingeleitet wurde die Nummer mit den Worten "wir spielen ein Stück, das wir bis zu dieser Tour für unaufführbar gehalten haben, einfach weil wir dachten, das Stück habe sich im Studio selbst gespielt, während wir und der Toningenieur geschlafen haben". Mit der B-Seiten-Performance vom Sailor Man aus dem Hohen Norden wurde zwar nicht der oben erwähnte Seefahrer besungen, aber dafür ein weiteres Goldstück des Programms performt, welches überwiegend aus den veröffentlichten Stücken der letzten 3 Alben bestand. An diesem Abend waren die vier Tocotronics – wie schon seit geraumer Zeit – sehr gesprächig und in bester sowie genau der passenden Spiellaune, um die bedingungslose, kollektive Kapitulation einzuleiten, die mit großem Beifall entgegengenommen wurde. Der begleitende Chor aus Julia Wilton (Das Bierbeben) und Barbara Wagner (Britta) sollte noch um den kompletten Tocotronic-Freundeskreis erweitert werden. Neben dem Chor wurde an dieser Stelle auch das Publikum mit Rosen begrüßt. Nun, "Das goldene Zeitalter" ist vorbei, die Türen sind verschlossen und man wird auch nicht mehr so oft in die Hamburger Schule gehen. Eine gewisse Traurigkeit befällt nicht nur die Autorin.

"Reiß deine Fesseln doch entzwei, und lass' das Dreckschwein mal zuhause, die Zeit der Schmerzen sind vorbei" singt der Sänger bei Sag alles ab, dem Song der aktuellen Veröffentlichung, der wie kein anderer an die frühen Tocotronic erinnert. Die Bühne vernebelt sich, die Band ist zu einem Kreis zusammengerückt und die ersten Töne von Explosionen erklingen, dem wohl "schönsten" Song der Platte. Tocotronic gehen mit diesem Lied und den letzten Zeilen "alles gehört dir, eine Welt aus Papier, alles Explodiert, kein Wille triumphiert " von der Bühne, um nach großem Applaus für ein paar Zugaben zurückgeholt zu werden. Wir gehen dem grandiosen Ende entgegen. Die Bühne ist nun ganz in ein dunkles Nebelgewand gehüllt. Die Gitarren werden malträtiert, der Raum ist vom grollendem Gitarrengewitter gefüllt und wird mit der nun mysthisch klingenden Stimme von Dirk von Lowtzow durchbohrt. Im Hintergrund erscheint der giftgrüne Schriftzug "Kapitulation". Die Musiker entschwinden der Bühne und hinterlassen mit der zauberhaften Chansonstimme von Ingrid Caven, die aus Lautsprechern das Dunkel durchbricht, die Leute in einem triumphalen Taumel. Unsere Fotografin schaut in die Gesichter der Konzertgäste: "herrlich"! Ein letztes Glas Wein zur Feier des Tages, bevor man in hektischer Betriebsamkeit zurück vor die Tore geschoben wird. Es regnet schon wieder. "There will be a time when our silence will be more powerful than the voices you strangle today", erinnert sich die Redakteurin und verschwindet in der Nacht.

Setlist

Mein Ruin – Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen – Sie wollen uns erzählen – Verschwör dich gegen dich – Aber hier Leben Nein Danke
Die Grenzen des Guten Geschmacks 2 – Free Hospital – Sailor Man – Luft – Kapitulation – Aus meiner Festung – Imitationen – Sag alles ab – Mein Prinz
Hi Freaks – Explosionen

Zugabe : Pure Vernunft darf niemals Siegen – Jackpot – Drüben auf dem Hügel – Explosionen

Zugabe 2: Freiburg

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