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Steve Hackett (live in Mainz 2019) © Torsten Reitz

Das Gelände der Mainzer Zitadelle bildet das ideale Ambiente für Steve Hackett, der mit dem viel umjubelten Genesis-Klassiker "Selling England By The Pound" und Kompositionen aus seiner Solokarriere die Zuschauer verzaubert.

Steve Hackett als Nachlassverwalter des Genesis Erbes aus den Siebzigern zu bezeichnen, hieße Gitarren ins Jimi Hendrix-Museum zu tragen. Der Mann ist eine Koryphäe, an den sechs Saiten wie auch was den songwriterischen Einfluss bei seiner alten Kapelle angeht.

Während die Ex-Kollegen allesamt in handzahmen musikalischen Gebieten agieren – Mike Rutherford mit den Plüschrockern von Mike And The Mechanics, Tony Banks als Klassik-Leichtgewicht, Peter Gabriel mit sporadischen Tourneen und Phil Collins als Stadionrock-Rentner – hält Hackett die Progressive Rock-Fackel hoch.

Unter freiem Himmel

Diese brennt auch im fünfzigsten Jahr seiner aktiven Laufbahn lichterloh, wovon sich jeder auf dem urig-ritterlichen Gelände der Mainzer Zitadelle überzeugen kann. Im Publikum tummeln sich zum Großteil Menschen, die 68 auf der Straße waren, zu Foxtrott getanzt haben und dem Lamm auf dem Broadway lauschten. Was der Teenager zu dieser Zeit entdeckte, ließ ihn nicht mehr los, so der O-Ton vieler Anwesenden.

Die zeitlosen Klassiker des britischen Prog-Flaggschiff zwischen 1970 und 1978 führt der 69-Jährige seit einigen Jahren unter dem Banner Genesis Revisited auf. Wie Sänger Nad Sylvan in einem kurzen Plausch vor der Show erläutert, ist Mainz tatsächlich das erste Open Air auf der Tour. Das Wetter spielt mit und die Band hat eine besondere Setlist im Gepäck.

Zeitlose Klassiker

Hackett präsentiert eine Auswahl seines neuen Soloalbums "At The Edge Of Light", auf dem er neben dem klassischen Prog auch in Sachen Weltmusik einiges zu bieten hat. Zum vierzigjährigen Jubiläum seines aus Sicht vieler Anhänger besten Soloalbums bildet eben jenes Werk "Spectral Mornings" den Rahmen des ersten Teil des Sets.

Danach wartet er mit der Komplettaufführung des wohl in jeder anständigen Prog-Top 10 vertretenen 1973er-Genesis Albums "Selling England By The Pound" auf, dessen bissige textliche Attitüde durch Thatcher, Blair, May und Brexit nichts an Aktualität verloren hat.

Ikonisches Gitarrenspiel

Um 19 Uhr beginnt der Reigen mit "Every Day" von "Spectral Mornings", das eine prima Visitenkarte von Hacketts ikonischem Spiel zwischen lyrisch-poetischer Strahlkraft und technischer Brillanz abgibt. Das flippig-flotte "Under the Eye of the Sun" ist der erste Track seines neuen Soloalbums und korrespondiert hervorragend mit dem Wetter.

Unter natürlichem Lichteinfall gibt Bläser und Percussionist Rob Townsend einen ersten Eindruck in sein Können. "Thank you for the light, Mr. Sunshine", grinst der mit einer positiven Aura gesegnete Bandleader.

Das getragene "Fallen Walls and Pedestals" mit seinen orientalischen Melodie-Wasserfällen schippert im Kashmir-Fahrwasser und lässt die Köpfe im Takt nicken. "Beasts in Our Time" begeistert nach getragenem Beginn mit seinem Riff-lastigen Schlussteil.

Deutsche Spezialitäten

Das schwelgerische "The Virgin and the Gypsy" leitet mehr Stücke von "Spectral Mornings" ein. Bei diesem romantischen Stück packt Bassist Jonas Reingold erstmals die doppelhälsige Gitarre aus und sorgt mit seiner zwölfsaitigen Untermalung gemeinsam mit Querflöte und Akustik-Gitarre für folkige Stimmung. "Tigermoth" kommt danach komplett instrumental daher.

"Schnaps flavoured chocolate" soll laut dem Maestro Backstage fließen, "but we are sober", leitet er mit seinem typisch trockenen britischen Humor zu einer kristallinen Version des elegischen "Spectral Mornings" über.

Das fernöstliche "The Red Flower of Tachai Blooms Everywhere" bezaubert danach mit seiner pentatonischen Melodik die Anwesenden, bevor "Clocks – The Angel of Mons" mit seiner schmissigen Hook den Pausentee einläutet, den Hackett mit seinen rudimentären deutsch Kenntnissen den alten Säufern widmet.

Zwischen Peter Gabriel und Phil Collins

Bei "Dancing With the Moonlit Knight", dem Opener des zweiten Teils, tritt auch Nad Sylvan aus dem Schatten als Backround-Sänger und veredelt den Klassiker. Seine Stimme bildet das perfekte Bindeglied zwischen der Theatralik Peter Gabriels und der Strenge Phil Collins. So gut Sylvan sich auch schlägt, sein Gesang verdeutlicht, welche Meisterleistung Gabriel auf "Selling England" vollbrachte."

Der Opener von "Selling England By The Pound" wartet mit einem arschcoolen Solo auf, das mit seinen Tappings und Sweeps Könner wie Eddie Van Halen oder Yngwie Malmsteen vorwegnahm und Gitarren-Götter wie Alex Lifeson und Brian May gleichermaßen beeinflusste.

Hackett, Spitze, eins, zwei, drei

"I Know What I Like (In Your Wardrobe)" groovt gemütlich durchs weite Rund und ist sowas wie Genesis’ frühster Hit. Townsends Saxophon Solo verleiht dem eher bekömmlichen Song eine extravagante Note. Ist die Textzeile "You can tell me by the way I walk" nicht viel cooler als das vergleichsweise banale "I can‘t dance"?

Im Gegensatz zu den übrigen Songs von "Selling England", die meist sehr nahe am Original aufgeführt werden, verleihen Hackett und Band dem Lied mit Saxophon und anderen Extravganzen eine fast jazzige Note, die aber gut funktioniert. 

Das Star Wars-Thema des Prog

Der Beginn von "Firth of Fifth" ist quasi das Star Wars-Thema des Prog und wird gekonnt von Pianist Roher King intoniert, der neben tollen Orchestrierungen auch für authentische Banks-Sounds verantwortlich zeichnet. Das Solo des Songs als eines von Hacketts prägnantesten zu bezeichnen, ist sicherlich nicht untertrieben, Sonderapplaus inklusive.

"More Fool Me" als kurzes akustisches Kleinod bringt die Gemüter kurz zur Raison, bevor mit "The Battle of Epping Forest" das nächste Feierwerk in Überlänge ansteht. Prog meets Minnesang meets Marching Band meets kurzes Klatsch-Intermezzo. Ein trotz mancher Ecken und Kanten auch heute noch ein krasses Stück.

Verschlungenheit und Perfektion

Das instrumentale "After The Ordeal" steht vor dem Heiligtum "The Cinema Show", bewahrt aber mit seiner eingängigen Melodie Eigenständigkeit. Kontrapunktische Verschlungenheit und diamantene Perfektion prägen das darauf folgende Epos.

Die verträumte überlebensgroße Ballade pendelt zwischen Zwielicht und Erleuchtung und schafft im Kopf das, was die wenigsten Kunstwerke erreichen: Transzendenz. Vom Bühnennebel eingelullt lässt Roger King die Tasten förmlich qualmen. Beeindruckend auch der Ausdrucksstanz eines Anwesenden, der jeden Waldorf-Pädagogen vor Neid erblassen ließe.

Vergangene Momente in gegenwärtiger Magie

„Aisle of Plenty“ bildet den Rahmen von "Selling England". Die Zugabe "Deja Vu" schaffte es seinerzeit nicht auf den regulären Tonträger, kommt hier zu seinen rechtmäßigen Ehren. Der getragen-dramatische Song ist in jedem Fall mehr als eine Ergänzung der bekannten acht Songs und schließt dieses Kapitel Musikgeschichte würdig ab.

Die "Trick Of A Tail"-Klammer "Dance On The Volcano" und "Los Endos" beendet schwung- und stimmungsvoll den Abend. Hier zieht die Band nochmal richtig vom Leder und beschwört den Geist des Rock'n'Roll gespickt mit Exzerpten der Stücke "Myopia" und "Slogans". Was ein bezauberndes, verfrickeltes Gezappel, das hier aus den Boxen tönt.

Steve Hackett als Gralshüter und seine fünf Mitstreiter der Tafelrunde vereinen hier vergangene Monumente mit gegenwärtiger Magie. Das hier ist Prog in Perfektion, aber in seiner lebendigsten Form. Möge die Macht noch lange mit dem beinahe Siebzigjährigen sein und seine beseelten Finger diese brillanten Stücke erklingen lassen.

Setlist

Every Day/ Under the Eye of the Sun/ Fallen Walls and Pedestals/ Beasts in Our Time/ The Virgin and the Gypsy/ Tigermoth/ Spectral Mornings/ The Red Flower of Tachai Blooms Everywhere/ Clocks - The Angel of Mons/ Dancing With the Moonlit Knight/ I Know What I Like (In Your Wardrobe)/ Firth of Fifth/ More Fool Me/ The Battle of Epping Forest/ After The Ordeal/ The Cinema Show/ Aisle of Plenty/ Deja Vu/ Dance On The Volcano/ Myopia/ Slogans/ Los Endos

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