Kraftwerk (2017)

Kraftwerk (2017) © Boettcher

Mit einer fulminanten 3D-Show im Ehrenhof ihrer Heimatstadt Düsseldorf beweisen Kraftwerk, wie zeitgemäß ihre Musik noch heute ist – und dass eine riesige Techno-Party auch unter freiem Himmel bestens funktionieren kann.

Kraftwerk zählen bereits seit Ewigkeiten zu den wohl wegweisendsten wie mysteriösesten Bands der jüngeren Musikgeschichte. Nachdem es zwischenzeitlich einige Jahre recht still um die vier Mensch-Maschinen aus Düsseldorf geworden war, sind sie als eine Art Vorväter des Techno und teils sogar des Hip-Hop inzwischen allgemein akzeptiertes Kulturgut.

Roboter auf dem Fahrrad

Ihre künstlerische Relevanz haben Kraftwerk erst kürzlich wieder eindrucksvoll demonstriert. Mit dem im Mai erschienenen Box-Set "3-D: Der Katalog" ist es ihnen gelungen, ihre Alben mit mehrdimensionalen Shows ins 21. Jahrhundert zu hieven. 

Eine dieser Platten ist "Tour de France", bei der sich das Roboter-Quartett seinerzeit mit dem Radspektakel beschäftigt hatte. Was könnte also passender sein, als die Visionäre aus dem Kling-Klang Studio zum in diesem Jahr in Düsseldorf stattfindenden Start des Radrennens einzuladen.

Luftige Abfahrt

Um die Verbindung zwischen Düsseldorf (und Kraftwerk) auf der einen Seite sowie Frankreich auf der anderen Seite sowohl musikalisch als auch symbolisch perfekt zu machen, darf die Gruppe Air aus dem gallischen Nachbarland die Open-Air-Veranstaltung eröffnen. Pünktlich zum Beginn ihres Auftritts klart der bislang verregnete Himmel auf und erste Sonnenstrahlen schimmern durch.

Plätschert die Performance des für dieses Konzert zum auf ein Quartett mit Drummer und zweitem Keyboarder angewachsenen Duos anfangs gefühlt etwas dahin, ziehen Air später die Intensität merklich an. Gerade der mitgebrachte Schlagzeuger darf im Verlauf der Show immer wieder krachend auf seine Felle eindreschen. Den inzwischen 15.000 Zuschauern gefällt es.

Natürlich dürfen die bekannteren Stücke der ganz in weiß gekleideten Männer aus Versailles wie "Cherry Blossom Girl", "Kelly Watch The Stars" und "Sexy Boy" an einem solchen Abend nicht fehlen. Mit ihrer Mischung als Kraftwerk-mäßigen elektronischen Elementen sowie Pink Floyd-lastigem Space Rock stimmen Air das Publikum gelungen auf die Headliner ein.

Dreidimensional ins 21. Jahrhundert

War die Performance der Franzosen zwar experimentell, aber trotzdem noch klassisch angehaucht, so wird es nun eindeutig futuristisch. Bereits beim Betreten des Geländes wurden die Zuschauer darauf vorbereitet, was ihnen in der Folgezeit blüht. Jedem Gast wurde von einem der Ordner gleich eine passende 3D-Brille für das Hauptprogramm überreicht.

Die braucht man auch: Als eine Vocoderstimme schließlich die Ankunft der "Mensch-Maschine" ankündigt, fackeln Kraftwerk nicht lange und starten mit "Nummern" gleich in eine fulminante, im Stil der neuesten Veröffentlichung gehaltene Suite aus "Computerwelt"-Stücken – tanzende dreidimensionale Zahlen und Animationen auf der großen Leinwand inklusive.

Die Entdeckung der Räumlichkeit

Des Öfteren wurde den Düsseldorfern vorgehalten, dass sie ja eigentlich seit 2003 keine wirklich neuen Songs mehr veröffentlicht haben und im Prinzip ja lediglich Recycling betreiben würden. Der Vorwurf mag vielleicht einerseits berechtigt sein. Andererseits zeigen Kraftwerk ein ums andere Mal auf, wie zeitlos ihre Werke sind.

Angefangen mit der Neuauflage einiger Klassiker auf "The Mix" im Jahre 1991, haben es sich die Visionäre aus dem Rheinland nie nehmen lassen, ihr Material in ein aktuelleres, zeitgemäßeres Soundgewand zu packen. "3-D: Der Katalog" bildet hierbei keine Ausnahme, zumal Kraftwerk nun endlich das Element der Räumlichkeit optisch wie klanglich für sich entdeckt haben.

Vergangenheit wird Zukunft

Die Elektronik-Pioniere schaffen es eben immer, sich selbst wieder neu zu erfinden – und das haben sie mit ihren aktuellen Konzerten einmal mehr eindrucksvoll getan. Als Zuschauer kann man sich nämlich auch an diesem Abend im Düsseldorfer Ehrenhof nie sicher sein, aus welcher Ecke des Geländes wohl das nächste Geräusch oder Bild auftauchen mag.

Wer sich außer dem als menschliche Stimme der Roboter zu hörenden, letzten Gründungsmitglied Ralf Hütter dabei letztlich hinter den vier Pulten befindet, ist angesichts des audiovisuellen 3D-Spektakels – zumindest optisch – beinahe egal. Kraftwerk waren schon immer ein wenig personenbezogenes Gesamtkunstwerk.

Weiterlesen im 2. Teil ›

Teil 1  Teil 2  

Teil 1  Teil 2  

 

Viel wichtiger ist es, dass die aktuelle Besetzung für die alten Stücke genug neue Impulse gefunden hat und diese bei ihrem Heimspiel in beeindruckender Klangqualität aufführt. Transparent und dynamisch ertönen die selbsternannten Musikarbeiter aus den vielen Surroundboxen, wie man es unter freiem Himmel kaum für möglich gehalten hätte.

Dazu gesellen sich die vielleicht massivsten Bässe, die man je bei einem Open-Air-Konzert auf die Ohren bekommen hat. Druckvoll und dennoch präzise lassen sie den Ehrenhof erbeben – und so mancher Düsseldorfer lässt sich im Scherz zur Vermutung hinreißen, dass man in Köln nach einer solchen Show wohl direkt ein neues Stadtarchiv hätte bauen müssen.

Fortschrittsglaube und Warnsignale

Besonders tiefenlastig hervor stechen hierbei das bereits erwähnte "Nummern" sowie "The Man-Machine" und "Radioaktivität". Gerade letzteres Stück hat über die Jahre hinweg doch zahlreiche interessante Veränderungen durchlaufen. War es ursprünglich durchaus als Pladöyer für Kernkraft lesbar, warnt es inzwischen mit "Nachrichten"-Intro vor nuklearen Katastrophen wie Tschernobyl und Fukushima.

Insgesamt konzentrieren sich Kraftwerk bei ihrem einzigen Deutschlandkonzert in diesem Jahr auf die von "3-D: Der Katalog" als Suiten neuinterpretierter Stücke. So folgt auf das Eröffnungssalvo von "Computerwelt" sogleich ein ebenso auf allen Ebenen geglückter Dreischlag aus "The Man-Machine"-Stücken, bevor es mit Animationen von klassischen Fahrzeugen wie dem Käfer auf die "Autobahn" geht.

Auf Entdeckungsreise

Mobilität ist hierbei auch direkt ein gutes Stichwort. Natürlich steht bei einer Show zum Start der Tour der France auch genau dieses Radrennen im Vordergrund. Von den Schnellstraßen für Vierräder gehen Kraftwerk in einen ausgedehnten Teil mit Nummern ihres letzten Studioalbums über. Eingeleitet durch den Titelsong, gehen die Zuschauer mit den vier Robotern in mehreren technolastigen Etappen auf Frankreichreise.

Dabei wird stets die Verbindung zwischen Mensch und Maschine betont, die ja bei den Düsseldorfern bereits seit vier Jahrzehnten einen hohen Stellenwert einnimmt und auch bei der Kombination zwischen Fahrer (in "Vitamin") und Zweirad (wie im späteren "Aéro Dynamik"). Trotz ihrer inzwischen vorhandenen Abneigung gegen Atomares halten Kraftwerk insgesamt weiterhin den Fortschrittsglauben hoch.

Futuristische Technoparty im altehrwürdigen Ambiente

Kinetisch und energiegeladen geht es in diesem Teil, wie während des gesamten Konzerts, aber nicht nur auf der Videoleinwand und aus den vielen Lautsprechern, sondern auch auf dem Areal des Ehrenhofs selbst zu. Die wenigsten hätten es wohl im Vorfeld vermutet – aber die vier gesetzten Roboter servieren ihnen eine fulminante Technoparty vom Feinsten.

So fühlt man sich als Zuschauer bei dem sehr rhythmischen "La Forme" und dem mittlerweile obligatorischen Finale aus "Boing Boom Tschak", "Techno Pop" und "Musique Non-Stop" ebenso zum Tanzen und Wippen mitgerissen wie bei der gleichermaßen mobilitätsaffinen "Trans Europa Express"-Suite und eigentlich auch bei allen anderen Stücken des Abends.

"Wir sind die Roboter"

Was wäre aber eine Kraftwerk-Show, wenn nicht irgendwann die vier Operatoren die Bühne verlassen und an ihrer Stelle ihnen nachempfundene bewegliche Puppen hinter den Pulten Platz nehmen würden? "Wir laden unsere Batterie, jetzt sind wir voller Energie" – der Satz gilt in Düsseldorf für Publikum wie die Stellvertreter der Musiker vor der großen Videoleinwand.

Dass die Roboter im wahrsten Sinne des Wortes mit den Zuschauern tanzen, ist auch eigentlich nur folgerichtig. Kraftwerk sind schließlich größer als die Einzelpersonen, die dahinterstecken – und zum Grundgedanken der Virtualität im 21. Jahrhundert gehört es eben auch, sich nach (oder bereits vor) seinem Ableben problemlos durch eine Art Avatar ersetzen lassen.

Weiterhin wegweisend

Kraftwerk sind in dieser Hinsicht ihrer Zeit genauso voraus, wie sie es in punkto Technologieeinsatz beim Erschaffen musikalischer Kunstwerke schon immer waren. Von Hütters gelegentlichen minimalen Timingschwierigkeiten beim Gesang abgesehen, sieht man beim Verlassen des Geländes am Ende des zweistündigen Konzerts auch überall nur strahlende bis hochzufriedene Gesichter.

Selbst die größten Elektronikmuffel, die überhaupt nur hingegangen sind, um die lebende Legende Kraftwerk einmal aus nächster Nähe zu erleben, müssen sich am Ende eingestehen, dass sie wohl Einmaliges miterlebt haben. Für diejenigen, die das einzigartige "Tour de France"-Event verpasst haben, gibt es aber mit "3-D: Der Katalog" zumindest einen recht brauchbaren Ersatz für zu Hause oder unterwegs.

Setlist

Nummern / Computerwelt / It’s More Fun To Compute / Heimcomputer / Computerliebe / The Man-Machine / Spacelab / Das Model / Autobahn / Tour de France / Prologue / Étape 1 / Chrono / Étape 2 / La Forme / Vitamin / Nachrichten / Geigerzähler / Radioaktivität / Trans-Europa Express / Metall auf Metall / Abzug // Die Roboter // Aéro Dynamik / Boing Boom Tschak / Techno Pop / Musique Non-Stop

‹ Zum 1. Teil

Teil 1  Teil 2  

Alles zu den Themen:

kraftwerk air