R.E.M. (2008)

R.E.M. (2008) © Warner

Eine der bekanntesten Bands der Welt gab gestern ihre Auflösung bekannt – nach einunddreißig Jahren verabschieden sich R.E.M. von der großen Bühne. Unser Redakteur Daniel Nagel blickt auf ihre bemerkenswerte Karriere zurück, in deren Verlauf sie von einer kleinen Indieband aus Athens, Georgia, zu einem weltweit bekannten Phänomen heranwuchsen. Wir sagen Lebwohl und vielen Dank für die Musik.

{image}Als R.E.M. 1983 ihr Debütalbum Murmur veröffentlichten, hätte wohl niemand vermutet, dass die vier jungen Männer aus dem kleinen Collegestädtchen Athens in Georgia einmal weltweite Popularität beschieden sein würde. Murmur ist auch fast 30 Jahre später ein radikales, ungewöhnliches Werk. Michael Stipes genuschelter Gesang ist oft kaum verständlich und selbst wenn man die Texte kennt, bleiben Inhalt und Bedeutung rätselhaft. Mike Mills voller, melodischer Bass und Peter Bucks jangelnder, von den Byrds beeinflusster Gitarrensound sorgt gemeinsam mit Bill Berrys gradlinigem Schlagzeugspiel dennoch für einen eingängigen Bandsound, der Michael Stipes ebenso unkonventionellen wie charakteristischen Gesang zu tragen und zu akzentuieren vermochte.

{image}In gewisser Hinsicht ist Murmur das Nevermind der 1980er, trug es doch entscheidend dazu bei, eine unabhängige Musikszene in den Vereinigten Staaten in Form des College-Rock zu begründen. Dieser Umstand verdeutlicht zwei Konstanten des Schaffens von R.E.M., nämlich ihr selbstbewusstes, unangepasstes Indie-Ethos und ihr gleichzeitiges Streben nach Massenerfolg. Mit anderen Worten: R.E.M. suchten von Anfang an nach Möglichkeiten, möglichst viele Menschen anzusprechen, was sich beispielsweise darin ablesen lässt, dass die Zahl von 200.000 verkauften Alben und Platz 36 in den Billboard-Charts als Enttäuschung betrachtet wurde. Bei allem Streben nach Erfolg bemühte sich die Band aber, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und ihren Weg selbst zu bestimmen, beispielsweise indem sie früh einen Anwalt engagierte, um ihre Interessen gegenüber den Plattenfirmen zu vertreten. Ihre unprätentiöse, aus eigenem Entschluss getroffene Entscheidung zur Auflösung ist der konsequente Endpunkt ihres Selbstverständnisses. 

Die Herkunft von R.E.M. aus Athens liefert einen wichtigen Anhaltspunkt für den ausgeprägten Willen der Band zur Selbstbehauptung. Der Süden der USA wird häufig zu Recht als sehr konservative Region beschrieben. Im Süden existieren aber auch zahlreiche liberale Enklaven, die wie Inseln aus einem Meer des Konservatismus herausragen. Athens, Georgia, die kleine Collegestadt und Sitz der University of Georgia, ist so eine Enklave. Solche Städte verfügen nicht nur über eine lebendige Künstler- und Musikszene, sondern auch über eine hochpolitisierte liberale Studentenschaft, die sich ständig gegen den konservativen Mainstream des Umlands behaupten muss. Daraus entsteht ein bemerkenswertes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Liberalen und eine starke Verbindung zu dem Ort, der einem gleichsam ein Exil in einer feindlichen Umwelt bietet.

{image}Es ist daher nicht überraschend, dass R.E.M. stets eine hochpolitische Band waren, auch wenn das selbst vielen Amerikanern verborgen geblieben sein mag. Anders als die andere große politische Band der 1980er, U2, trugen sie ihre Überzeugungen nie im Stile von Predigten und Prozessionen in die Welt hinaus. R.E.M. sind keine Missionare, sondern Aktivisten, die sich bestimmter Anliegen annehmen, deren Grundhaltung aber stets eher defensiv ist. Ebenso wie U2 ohne den irischen, katholischen Universalismus unverständlich sind, so erschließt sich auch das Werk von R.E.M. nicht, wenn man nicht deren Wurzeln als südstaatliche Liberale bedenkt.

Den stärksten Ausdruck ihrer Verbundenheit mit dem Süden bietet das 1985 veröffentlichte dritte Album der Band, Fables Of The Reconstruction. Aufgenommen in London mit Joe Boyd, wurde sich die Band schlagartig ihrer Andersartigkeit bewusst und besann sich daher umso stärker auf ihre Wurzeln. Fables ist eine Suche nach der eigenen Identität, die R.E.M. in den skurrilen Eigenheiten der Südstaaten finden. Auf die Identitätsfindung folgte der politische Aktivismus, der gleichzeitig stets wachsenden kommerziellen Erfolg brachte. Sowohl auf Lifes Rich Pageant (1986) wie auch auf Document (1987) finden sich zahlreiche politische Songs, die beispielsweise mit der Mittelamerika-Politik der USA abrechnen oder das politische Klima im Inland kritisieren. Cuyahoga bietet den stärksten Ausdruck ihrer politischen Überzeugungen und enthält das für amerikanische Liberale typische Bekenntnis zu den USA, da es den Glauben, den Willen und die Entschlossenheit dokumentiert, das Land von innen heraus zu reformieren. Das kaufende Publikum störte sich daran nicht, sondern erfreute sich am melodischen Power-Rock dieser Alben. Dass der größte Hit dieser Zeit, The One I Love, in Wirklichkeit kein Liebeslied, sondern ein zynisches Anti-Liebeslied war, entging vermutlich vielen Hörern. 

{image}Mit dem Wechsel zum Major-Label Warner nahm der kommerzielle Erfolg der Band stetig zu und fand in Losing My Religion von Out Of Time (1991) einen vorläufigen Höhepunkt. Das ebenso erfolgreiche Nachfolgealbum Automatic For The People (1992) machte R.E.M. endgültig zu weltweiten Superstars – und gilt für viele als eines der besten Alben aller Zeiten. Auf dem Höhepunkt ihrer Popularität handelten R.E.M. einen hochdotierten Plattenvertrag mit Warner aus, vermieden aber ansonsten die komplette Kommerzialisierung ihrer Musik. Kurz vor der Veröffentlichung ihres letzten herausragenden Albums New Adventures In Hi-Fi (1996) stieg Schlagzeuger Bill Berry aus – ein Schlag, von dem sich die Band nie wieder vollständig erholte.

Wie die meisten großen Bands sind R.E.M. mehr als die Summe ihrer Teile und Berry war ebenso unersetzlich wie jedes andere Bandmitglied. R.E.M. machten als Trio weiter, aber sowohl künstlerisch wie kommerziell auf niedrigerem Niveau. Ihre Tourneen blieben aber auch weiterhin außerordentlich erfolgreich und es gelang ihnen stets, in einzelnen Songs an ihre frühere Klasse anzuknüpfen. Ihr aktuelles Album Collapse Into Now schlägt beispielsweise auf gelungene Art und Weise eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. In dieser Hinsicht erfolgt die Auflösung nicht auf einem Tiefpunkt, sondern im Bewusstsein, zum Abschluss der Karriere noch einmal das bestmögliche Resultat erzielt zu haben. Was bleibt ist die bemerkenswerte Erkenntnis, dass es nur ganz wenige Bands in der Geschichte der Popmusik gibt, die über einen längeren Zeitraum herausragende Alben veröffentlicht haben, aber vor allem das Bewusstsein, dass R.E.M. in all diesen Jahren immer ihren Prinzipien treu geblieben sind. Und so bleibt es nur noch übrig, zum Abschied zu sagen:

Auf Wiedersehen und vielen Dank für die Musik.

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