Ian Anderson (2016)

Ian Anderson (2016) © Martin Webb

Die britische Prog-Rock-Band Jethro Tull feiert 2018 ihren 50. Geburtstag. Passend dazu melden sich gleich drei zentrale Bandmitglieder musikalisch zurück - an erster Stelle natürlich Mastermind Ian Anderson. Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Im Februar 2018 feierten Jethro Tull, die britische Institution in Sachen Blues, Folk und progressivem Rock ihren fünfzigsten Geburtstag. Kaum eine Band hat so lange, kontinuierlich und pflichtbewusst ihre Vorstellung der Rockmusik bei tausenden Konzerten auf die Live-Bühnen diese Welt getragen.

Der Mann mit der Flöte

Nach den bluesinfizierten Anfängen mit Mick Abrahams an der Gitarre, wurde das Werk der Band immer eigenständiger und unverwechselbarer. Bandmitglieder kamen und gingen, die 21 Studioalben ließen spät an Strahlkraft nach, aber einer war immer präsent: Mastermind, Songschreiber, Sänger, Gitarrist und Flötenspieler Ian Anderson.

Sein Bühnenmotto manifestierte sich bereits 1971 auf dem Album-Monolithen "Aqualung", auf dem die Verbindung zwischen hartem Rock, Flötenspiel und akustischen, folkigen Zwischentönen besonders gut gelang. "Locomotive Breath", ist der eine Tull-Song, den man täglich im Radio hören kann und der die schnaufende Lokomotive quasi als Motto bestens mit den Worten: "The train it won't stop going, no way to slow down" personifiziert.

Beständigkeit, Einfluss, Dominanz und Brüche

Es ist immer noch faszinierend, mit welcher Kraft Anderson seit 50 Jahren fast ununterbrochen Platten aufnimmt und live präsent ist. Nicht wenige verbinden den Namen Jethro Tull mit ihm, seiner Person und der charismatischen Aura. Das Bild des bärtigen, flötenspielenden Derwischs im Einbeinstand, hat sich tief in die Rockmusikhistorie eingebrannt. Platten wie "Stand Up", "Thick As a Brick", "Minstrel In The Gallery" oder "Too Old To Rock and Roll Too Young To Die" haben die Rockmusik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre entscheidend mitgeprägt.

Andersons Präsenz war aber stets so groß, dass Musiker neben ihm kaum Platz zum Atmen hatten. Dazu trug auch das persönliche Verhalten des Flötenspielers bei, der seinen Kollegen ordentlich den Marsch zu blasen vermag. Noch dazu ist der gebürtige Schotte ein knallharter Businessman, der zeitweise parallel zum Musikbusiness eine Lachszucht betrieb. Am längsten hielt es noch Gitarrist Martin Barre aus, der 2011 nach 43 Jahren Bandzugehörigkeit den Dienst quittierte. Andere Mitglieder des klassischen Line-ups wie Drummer Barriemore Barlow sind nicht mehr als Musiker aktiv.

Barres Ausstieg hatte Folgen, denn der eigentliche Bandname Jethro Tull wurde 2012 aufgegeben. Im Jahr 2018 touren nun sowohl Anderson mit The Best Of Jethro Tull – 50th Anniversary by Ian Anderson als auch Martin Barre mit Jethro Tull's Martin Barre & Band – 50th Anniversary Celebration – Best Of Jethro Tull durch Deutschland, um das facettenreiche Werk ihrer Band abermals zu zelebrieren.

Neu-Editionen alter Klassiker von Steven Wilson

Ein halbes Jahrhundert Jethro Tull zeigt sich auch in den seit 2011 jährlich erscheinenden "40th Anniversary-Reissues" der entsprechenden Studioplatten. Neo-Prog-Musiker Steven Wilson (Porcupine Tree, Blackfield) brilliert seit Jahren auch als "Archiventstauber" und "Soundpolierer" für renommierte Progressive-Künstler und gewann mit seinen ersten Arbeiten ("Aqualung", "Thick As A Brick" und "A Passion Play") das Vertrauen von Ian Anderson.

Dieser öffnet tatsächlich seine Archive und liefert zusammen mit damaligen Bandmitgliedern unbezahlbare Einblicke in den Entstehungsprozess der jeweiligen Platte. Darüber hinaus erhält Wilson die Möglichkeit, neben der Neuabmischung der Originalplatten auch zahlreiche unveröffentlichte Stücke der jeweiligen Phase und komplette Livekonzerte für die geschmackvollen Boxen zu verwenden. Dadurch entstehen fantastische Zeitdokumente einer lange vergangenen Ära, die bei der Fangemeinde für regelrechte Freudenfeste sorgen.

40 Jahre Heavy Horses

Nach "Songs From The Wood" 2017, feiert "Heavy Horses" 2018 seinen 40. Geburtstag und wurde im Frühjahr als luxuriöse Neuausgabe von der Koppel gelassen. "Heavy Horses" rangiert bei vielen Tull-Fans in der Top 5 Liste der besten Alben und zeigt eindrucksvoll, wie sich Anderson und Band, nach teils erratischen Platten zu Beginn der 1970er ("A Passion Play", "Warchild"), durch den Rückzug in das ländliche England ihre Vision von Folk und Rock umsetzten.

"Moths", "Weathercock", "One Brown Mouse" oder das majestätische Titelstück zeigen die Band auf dem Zenit ihres Schaffens. Neben Anderson und Barre, sind es der Ausnahmeschlagzeuger Barriemore Barlow, der verstorbene Bassist John Glascock und das Tastenduo John Evan und David Palmer, die im Studio wie eine "Fabrik" (so David Palmer) funktionierten. Auch live lief die Maschine bestens geölt. Die Box beinhaltet das komplette Konzert aus Bern im Mai 1978, das zuvor in Teilen auf dem nachträglich im Studio bearbeiteten Livedokument "Bursting Out" zu hören war.

David Palmer 2018: Der geheime zweite Chef betritt die Bühne

Die Tull-Phase ab "Warchild" (1974) bis hin zum Ende der Folk-Triologie mit "Stormwatch" 1979 und dem schmerzhaften Ende des klassischen Line-ups im Jahr 1980 zeigt aber auch, wie David Palmer immer mehr an Einfluss gewann. Der klassisch-ausgebildete Dirigent mit dem großen Herz für Rockmusik verfeinerte den Sound der Band mit filigranen Elementen aus Renaissance und Barock. Zusammen mit Andersons Flöte und einer Rockband im Rücken, ergab das ein sehr virtuoses und einzigartiges Klangbild. Die 2019 anstehende "Stormwatch"-Jubiläumsausgabe wird dann die zunehmenden Risse im Bandfundament, den Tod von John Glascock und das Ende dieser klassischen Band-Ära aufarbeiten.

David Palmer, der seit einigen Jahren unter dem Namen Dee Palmer als Frau lebt, veröffentlichte Anfang 2018 sein erstes Soloalbum. "Through Darkened Glass" ist eine Sammlung von Eigenkompositionen der letzten 45 Jahre und beinhaltet auch sehr interessante Skizzen wie z.B. "Urban Apocalypse", ein Lied, das Palmer einst für Jethro Tull entwarf. Außerdem ist Dee Palmer mit ihrem Tagebuch aus den 1970ern eine unterhaltsame Lieferantin von Begleittexten zu den jährlichen Jubiläumsausgaben der Band. Es ist sogar von geplanten Live-Auftritten der mittlerweile Achtzigjährigen die Rede.

Martin Barre 2018: Wieder mehr Tull

Martin Barre nahm nach seinem Ausstieg bei Jethro Tull ein paar nette Platten mit Neuinterpretationen von Tullstücken sowie eigene, vorwiegend instrumentaler Musik auf. Live präsentiert er sich zusammen mit dem Sänger und Bassisten Dan Crisp bluesinfiziert und erdig. Man erspielte sich in kleineren Clubs eine treue aber überschaubare Anhängerschaft und im Jubiläumsjahr 2018 wird das Augenmerk live noch mehr auf dem Werk seiner Ex-Band liegen.

Ian Anderson 2018: volle Kraft voraus, aber stimmliche Probleme

Ian Anderson hat nach dem Abgang von Martin Barre zwei bemerkenswerte Studioplatten mit einer neuen Begleitband um den Rosenheimer Gitarristen Florian Opahle veröffentlicht.

Kompositorisch knüpfte gerade "Thick As a Brick II" an glanzvolle Tage an aber die dazugehörigen, jährlichen Tourneen zeigten immer mehr, dass Andersons seit 1984 malträtierte Stimme kaum noch ein ganzes Konzert trägt. Zuletzt konnte man beim etwas unausgegorenen neuen "The Jethro Tull Rock Opera"-Konzept 2017 feststellen, dass der Siebzigjährige stimmlich teilweise überfordert wirkte.

Eiserner Wille und Ausblick

Dabei schonte sich Anderson nie, trat krank auf – und saß sogar im Rollstuhl auf der Bühne. Die gallionsartige Figur des einbeinigen Flötenspielers brachte ihm stets die Anerkennung seiner treuen Anhängerschaft. Da Ian Anderson kürzlich ankündigte, man werde ihn von der Bühne tragen müssen, wird sich das auch nicht mehr ändern.

Für 2019 ist sogar eine neue Studioplatte angekündigt und so gilt auch bei der anstehenden Best-Of Tour: "The train it won't stop going, no way to slow down"

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