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First Aid Kit (live in Hamburg, 2018) © Falk Simon

Die Hallen werden größer, die Stimmen waren schon immer gigantisch: First Aid Kit greifen bei ihrer aktuellen Tour Rockelemente auf, um ihrem steigenden Bekanntheitsgrad Rechnung zu tragen, bleiben dabei aber auch der Folk-Pop-Romantik verschrieben, mit der sie vor gut zehn Jahren begannen, sich in unsere Herzen zu singen.

Erinnert sich noch jemand an MySpace? Jenes Kapitel der Social Media-Geschichte, das sich so sehr als musikalische Plattform verstand, dass es zum Sprungbrett für zahlreiche Bands wurde?

Zu Tränen gerührt

Auch die Karriere von Klara und Johanna Söderberg, besser bekannt als First Aid Kit profitierte von der Plattform. Im Alter von gerade einmal 14 und 17 Jahren begannen die Schwedinnen 2007 dort ihre Songs zu veröffentlichen.

Junge Schwestern, die alte Musik über ein neues Medium verbreiten – die Zeit schienen sie von Anfang an auf den Kopf zu stellen. Die Sensation war da: ein viel beachtetes Fleet Foxes-Cover (diesmal über YouTube) und eine zu Tränen gerührte Musiklegende sorgten für jede Menge Aufmerksamkeit.

Die Hallen wachsen

Fünf Jahre später sah ich die Band in der Brotfabrik, einem kleinen Club in Frankfurt, wo sie ihr zweites Album "The Lion’s Roar" vorstellten, eine der besten Pop-Platten des sich langsam zum Ende neigenden laufenden Jahrzehnts. Es war ein wunderschönes Konzert: Die Songs hervorragend, der Harmoniegesang bezaubernd, das Konzert im besten Sinne intim.

Ein weiteres halbes Jahrzehnt, eine weitere zu Tränen gerührte Musiklegende und zwei weitere Alben später sind First Aid Kit-Konzerte eine ganz andere Hausnummer – und zwar im ganz realen Sinn. Die Hallen sind gewachsen und dann auch noch ausverkauft. So auch die Berliner Columbiahalle, in der das Duo im Rahmen der Tour zum neuen Album Ruins an einem verregneten Märzabend spielt. Intim kann man dieses Setting nicht mehr nennen und auch die Show ist mit dem Bekanntheitsgrad der Band gewachsen.

Inspirationsquelle Rockkonzert

Es liest sich falsch, lässt sich aber schwer von der Hand weisen: First Aid Kit-Konzerte sind zu Rockkonzerten geworden. Musikalisch mag das genau genommen nur auf einen Song – das (zu Recht) wütende, die ein halbes Jahr nach seiner Veröffentlichung losgetretene #metoo-Debatte vorwegnehmende "You Are the Problem Here" – zutreffen, aber Lichtshow und teilweise ins Mikro gebrüllte Publikumsanimationen ("Berlin!!") ordnen sich in genau diese Tradition ein.

In ihrer Musik sind Klara und Johanna sich und ihren Wurzeln weitgehend treu geblieben. Folk und Country, vorgetragen von einem der besten Gesangsduos diesseits des Millenniums, und versehen mit einem Popgespür, wie es in Schweden keine Seltenheit ist.

Dass First Aid Kit mit ihrer aktuell nicht gerade trendigen Musik dennoch einen Nerv treffen, der ihre Popularität jährlich ansteigen lässt, liegt sicherlich auch daran, dass ihre Harmonien nicht nur an Emmylou und Gram, an Johnny und June erinnern, sondern auch an die von ABBA. Sie harmonisieren, was schwer zusammengeht: Das Authentizitätsideal des Folk und den Ästhetizismus des Pop.

Zeitspiele

Natürlich besitzt dieses Konzept eine ausgeprägte Retro-Note. Allerdings sind die Anklänge vergangener Pop-Zeitalter weniger geradlinig als vor sechs Jahren. 60s-Pop-Anleihen hatten sie schon zuvor, das "Ruins"-Highlights "Fireworks" geht den Weg allerdings so konsequent, dass man den Folk mit der Lupe suchen müsste. "Postcard" hingegen ist purer Country.

Dann wären da noch die Videoprojektionen, die wiederholt Gebrauch vom in den LSD-getränkten 1960ern beliebten Kaleidoskop-Effekt (Man denke an das Cover der ersten Pink Floyd-LP "The Piper at the Gates of Dawn") machen, die Outfits der Schwestern erinnern wiederum an die 1970er. Die bereits erwähnten Rockshow-Elemente hingegen hätte es auf einem Folk-Konzert dieser Jahrzehnte kaum gegeben.

Einer der schönsten Momente des Konzertes in Frankfurt damals war, als Klara und Johanna den Song "Ghost Town" völlig unverstärkt und akustisch darboten, mit Unterstützung des Saales. Sie versuchten diesmal etwas ähnliches, mit "Hem of Her Dress" vom neuen Album nämlich, aber ganz ohne Verstärkung kann man in der Columbiahalle nicht spielen. Also versammelten sich die beiden Sängerinnen mit ihren Mitmusikern um ein einziges Mikro und forderten das Publikum auf mitzusingen.

Die Romantik des Gesangs

Wenn First Aid Kit eine direkte Message haben – die indirekte lautet wohl "Zeit ist relativ" –, dann ist es eine Romantisierung des gemeinschaftlichen Gesangs. Genau darum geht es auch in ihrem besten Song: "Emmylou" lässt den Zuhörer glauben, dass mit einem Menschen zu singen, der einem nahe ist, das schönste Gefühl der Welt sein muss – wahre Liebe quasi.

Die Intimität dieser Liebe zu kommunizieren, wird mit wachsenden Hallen immer schwieriger werden, doch haben die Söderberg-Schwestern – von den manchmal etwas unnötigen Rockelementen abgesehen – auch an diesem Abend in Berlin wieder bewiesen, dass sie das Talent dazu haben, dieses Kunststück zu vollbringen.

Setlist

Rebel Heart / It’s a Shame / King of the World / Postcard / Stay Gold / The Lion’s Roar / You Are the Problem Here / To Live a Life / Ruins / Wolf / Master Pretender / Fireworks / Emmylou / Nothing Has to Be True // Hem of Her Dress / Revolution / My Silver Lining

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