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Impressionen (Reeperbahn Festival, 2014) © Jan Paersch

Rund um Hamburgs bekannteste Straße fand vom 17. bis 20. September 2014 das Reeperbahn Festival statt. Newcomer aus allen Genres spielten Konzerte in Bars, Theatern, Kirchen und Schiffen in schwindelerregender Vielzahl. Wir versuchen uns an einem kleinen Überblick.

Mo Kenney ist ein wenig müde. Es ist ihr viertes Konzert heute, dabei ist es gerade einmal 15 Uhr. Blass sitzt die androgyne Kanadierin am Küchenfenster der Zweizimmerwohnung in Hamburg-St. Pauli. Ein schüchternes "Hello, nice to be here", dann spielt sie einen Song ihres neuen Albums "In My Dreams". Unplugged, vor gerade einmal 25 Leuten.

Die Singer/Songwriterin von der Halbinsel Nova Scotia kommt gerade aus dem Neidklub zwei Straßen weiter. Jetzt gibt sie ein Hauskonzert, nicht geheim, aber kaum angekündigt. Das Projekt in bed with in Kooperation mit sofaconcerts organisiert solche Konzerte und wurde auf Mo Kenneys Auftritt beim diesjährigen Reeperbahn Festival aufmerksam.

Omnipräsent in der Hansestadt

Das Festival, das 2014 zum neunten Mal stattfindet, ist omnipräsent in der Hansestadt, mehr noch als in den Vorjahren. Auch wer kein Ticket für das viertägige Newcomer-Event hat, kann sich Gratis-Konzerte auf dem Spielbudenplatz anschauen oder in eine der zahlreichen Galerien und Ausstellungen zwischen Pferdemarkt und Hafenstraße hineinschnuppern.

Eine Schönwetterlage, wie Hamburg sie Ende September selten gesehen hat, sorgt obendrein für hochsommerliche Festivalatmosphäre.

Der totale Live-Overkill

So gesehen bedarf es eigentlich keines "Warmup"-Mittwochs. Wer sich den abgespeckten Zeitplan des Eröffnungstags anschaut, wird beinahe wehmütig. So überschaubar war das reguläre Festival-Programm zuletzt vor sechs Jahren. Hatte man in diesem Jahr am Mittwoch noch die Wahl zwischen acht gleichzeitig spielenden Bands, waren es am Samstagabend 30.

Der totale Live-Overkill, und das bei 70 Spielstätten. Die schwedische Indie-Band in der Prinzenbar sehen oder das irische Folk-Trio in der St. Pauli Kirche? Oder lieber schnell zur Elbe runter und in die Barkasse MS Hedi springen für einen Gig mit angeschlossener Hafenrundfahrt?

Zuviel Auswahl, wo anfangen? Bei Jesper Munk!

Einen möglichen Anfangspunkt bietet das Konzert des Deutsch-Dänen Jesper Munk im Imperial Theater. Hier, wo sonst Krimi-Theater im Edgar-Wallace-Stil aufgeführt wird, spielt Munk mit seinem Trio lässigen Bluesrock. Der Münchner orientiert sich wie so viele an Jimi Hendrix, versucht aber gar nicht erst, den Gitarrengott heraushängen zu lassen.

Lieber verlässt er sich auf seine beeindruckende Stimme, die kaum nach einem Lebensalter von 22 Jahren klingt. Was auch Feist-Produzent Mocky aufgefallen ist, mit dem er gerade in Los Angeles sein zweites Album aufgenommen hat.

Junge Talente anstatt etablierte Acts

Munk ist eines der vielen jungen Talente, deren Bekanntmachung sich Deutschlands größtes Clubfestival auf die Fahnen geschrieben hat. Lange vor ihrem Durchbruch spielten hier Musiker wie der Folksänger Bon Iver oder der belgisch-australische Künstler Gotye.

Nur wenige etablierte Acts wie Madsen, Blood Red Shoes oder die Beatsteaks finden sich unter den 400 Künstlern, die anderen harren ihrer Entdeckung durch ein breites Publikum.

Lest im zweiten Teil: Nonnenkluft oder Brautkleid bei Balbina, hypnotische Kammerkonzerte, Grönemeyer gegen U2 und Mo Kenneys zweiter Versuch.

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Ambivalent: Balbina

So wie Balbina. Die 31-Jährige veröffentlichte gerade ihre erste EP und gilt als große deutsche Pop-Hoffnung. Die Berlinerin betritt die Bühne des Uebel & Gefährlich im Bunker in etwas weißem, das wie ein Brautkleid aussieht. Oder ist es eher eine traditionelle Nonnenkluft? Ähnlich ambivalent ist der Klang ihrer Band, die mit zwei Westerngitarren einen druckvollen Indie-Sound abliefert.

Der Gesang der Berlinerin allerdings ist klassischer Soul, ganz ohne Manierismen. Auf Platte ist das manchmal etwas zu viel orchestraler Breitwandpop, aber live überzeugt Balbina mit Mut zum großen Drama und Songtexten, die nur anfangs etwas unbeholfen wirken. "Ich muss was gegen das Nichtstun tun, denn das Nichtstun tut mir gar nicht gut" jedenfalls bleibt für den Rest des Abends als Ohrwurm hängen.

Hypnotisches Kammerkonzert in der St. Pauli-Kirche

Von den handyempfangssicheren Mauern des Bunkers im Karolinenviertel geht es in den Süden des Stadtteils, kurz vorm Fischmarkt. Hier, in der klassizistischen St. Pauli-Kirche, tritt die belgische Sängerin Melanie de Biasio auf. De Biasio widerspricht gerne ihrer Einordnung als Jazz-Sängerin. Und dass, was sie da macht, begleitet nur von Gitarrist Pascal Paulus, ist vor allem Blues. Ein karger, akustischer Blues, der leicht fernöstliche Züge trägt, wenn sie zur Querflöte greift.

Aber natürlich kann man es genauso Jazz nennen, wenn sie die spannungsgeladene Nina-Simone-Nummer "I‘m Gonna Leave You" interpretiert. Ein grandioses, hypnotisches Kammerkonzert einer großen Sängerin, die sicher nicht lange ein Geheimtipp bleiben wird.

Das Bier ist günstig und der Schweiß tropft von der Decke

Der Freitagabend endet mit einer Band, die nicht auf dem offiziellen Festivalprogramm zu finden ist, aber so selbstverständlich zum Reeperbahn Festival gehört wie der Club, in dem sie auftreten. Fuck Art, Let's Dance spielen im Molotow, dem legendären Indie-Club, in dem schon die White Stripes und Wir Sind Helden groß wurden.

Nach Kurzzeitexil in der Holstenstraße hat der ehemalige Kellerclub jetzt für vier Jahre eine Heimstatt am äußersten Ende der Reeperbahn.

Die vier Hamburger von Fuck Art, Let's Dance haben sich durch ihre energiegeladenen Livegigs eine Fanbasis erspielt und sind eine der ersten Bands auf der kleinen Bühne im zweiten Stock. Alles ist wie immer im Molotow: aus den Boxen dröhnt tanzbarer Synthie-Pop britischer Prägung, das Bier ist günstig und der Schweiß tropft von der Decke. Hamburgs Nachtleben wäre sehr viel ärmer ohne das Molotow.

Branchentreff: Grönemeyer, Streaming, U2 und Helga

Das Festival dagegen wäre weniger bedeutsam ohne den parallel stattfindenden Branchentreff Reeperbahn Konferenz, bei dem tausende Delegierte aus aller Welt in Panels und Workshops zusammenkommen.

Im weiteren Rahmenprogramm verleiht Marie-Luise Marjan alias Lindenstraßen-Helga-Beimer den Helga Festival-Award, witzelt MTV-Legende Ray Cokes mit jungen Bands in seiner nachmittäglichen "Reeperbahn Revue" und lässt sich Herbert Grönemeyer zum derzeitigen Stand der Musikindustrie interviewen.

Der Sänger kritisiert U2 für die kostenlose Verbreitung ihres neuen Albums via iTunes, dies sei respektlos gegenüber weniger bekannten Künstlern. Streaming dagegen ist für Grönemeyer erst akzeptabel, wenn es Musikern ähnliche Erlöse erwirtschaftet wie Radio-Airplay.

Das Publikum im Griff

Mo Kenney, die kanadische Sängerin, hat für solche Diskussionen keine Zeit. Nach ihren vier Konzerten am Freitag tritt sie am Samstag noch einmal in Angie's Nightclub auf. Die an ein Varieté-Theater angeschlossene Bar ist eigentlich zu glamourös für Kenneys empfindsame Folksongs.

Aber die durchdringende Stimme der 24jährigen funktioniert sowohl bei Songs mit Akustikgitarre als auch in elektrisch verstärkten mit Schlagzeug und Bass. Ihre letzten Songs sind ungezügelte Coverversionen, der Rock-Klassiker "Shakin' all' over" und David Bowies "Five Years". Gut, wenn man nicht nur in einer Küche sein Publikum im Griff hat.

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