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Justin Bieber (live beim Wireless Festival, 2017) © Mathias Utz

"Wireless, isch feier des": Wir waren auf der Premiere des zweitägigen Festivals in der Frankfurter Commerzbank Arena zwischen Beliebers, Marteriagirls und Old-School-Hip-Hop-Fans unterwegs und erzählen euch jetzt, ob sich der Besuch gelohnt hat. Digga!

Das Rhein-Main-Gebiet hat eine neue Festivalhoffnung. Auf dem Wireless-Festival geben sich nationale und internationale Hochkaräter die musikalische Klinke in die Hand: The Weeknd, Marteria, Sean Paul und natürlich Justin Bieber ("Kreisch!") sollen die Commerzbank-Arena zum Bersten bringen. Daneben lassen die Beginner und Freundeskreis die guten alten Zeiten aufleben. Klingt nach einer runden Sache oder?

Zwischen Autoscooter und Autotune

Das Wireless hat zwei Hotspots: die Hauptacts spielen auf der großen Bühne in der Arena selbst. Bei strahlendem Sonnenschein zieht es aber auch viele ins Freie zur Rockstars-Bühne, um zu den Beats von Nachwuchskünstlern wie Nico Suave oder Mauli ein paar Cocktails und Energy-Drinks zu kippen. Oder einer Alternativbeschäftigung nachzugehen: Darts zu spielen, sich mit Airbrush-Tattos zu schmücken, oder in einer Fotosession zum echten Rock...Star! zu werden. Heidi wäre stolz!

Diverse Fressbuden, Stände der Werbepartner und Fahrgeschäfte wie Autoscooter und Kettenkarussell sollen dem Gelände Jahrmarktcharakter verleihen. Die Rockstar-Stage kann sich durchaus sehen lassen, insgesamt ist der Außenbereich jedoch ziemlich trist und ideenlos ausgefallen. Viele Flächen sind leer. Hier lässt sich mit einem stimmigen Konzept und der ein oder anderen Deko-Idee noch einiges rausholen – à propos Konzept.

Gemischtwaren-Lineup

Hip-Hop? R&B? Pop? Das Line-Up ist eine wilde Mischung aus angesagten, internationalen und nationalen Künstlern und aufstrebenden Newcomern, wobei sich vor allem Einzelkünstler statt Bands präsentieren. Das Wireless ist kein reines Hip-Hop-Festival, wer allerdings nichts mit dem Genre anfangen kann, wird keinen Spaß haben.

Es sei denn, er oder sie ist sowieso nur im Bieberfieber. Dabei gibt es einige interessante Acts und Chartbreaker wie Sean Paul oder Jess Glynne zu bestaunen, die nicht jedes Jahr auf jedem Festival zu sehen sind.

Don't be so hard cause I'm only human

Gegen Nachmittag füllt sich langsam die Arena, während der stimmgewaltige Rag'n'Bone Man mit seinen Hits "Skin" und "Human" das Rund zum Singen bringt. Ein leidenschaftlicher Musiker, der merklich für seine Musik lebt, was nicht nur sein Mikrofon-Tatto am Hals zeigt. Der Sound seiner Band gerät leider etwas flach.

Powerfrau Jess Glynne kommt in voller Zehn Mann-Besetzung inklusive Bläsertruppe und bringt die Menge mit sommerlichen Popnummern wie "Rather Be", "Real Love", "Right Here" oder "Don't Be So Hard On Yourself" zum Tanzen. Die Band ist dabei ein echter Mehrwert und setzt gekonnt Akzente. So beginnt die Ballade "Take Me Home" ganz ruhig mit Piano und steigert sich kontinuierlich bis zum Ende. Glynne selbst überzeugt als starke Sängerin mit einer sympathischen Ausstrahlung. Absolut empfehlenswert!

Nicht empfehlenswert sind hingegen:

Genetikk: Prollo-Rap auf gefühlt einem Beat. "Lieb es oder lass es", rappen die Maskenmänner. Wir lassen das mal lieber.

Travis Scott: unerträgliches Autotune-Gestammel trifft auf dreißigsekündige Gangster-Poser-Soundschnipsel. Kein Rap, kein Gesang, kein Konzept. Und was soll dieser Justin-Bieber-Pulli?!  

Rap und fette Bässe 

Je später der Abend, desto kuscheliger wird es im Frontstagebereich – und dazu gibt es allen Grund. Mit den Beginnern, Freundeskreis und Marteria übernimmt die Deutsch-Hip-Hop-Fraktion die Bühne. In bester Oldschool-Manier feiern Tausende zu Beginner-Klassikern wie "Liebeslied", "Hammerhart", "Füchse" und "Irgendwie, irgendwo, irgendwann", auch wenn Eizi Eiz – von Freunden auch Jan Delay genannt – überzeugt davon ist, dass eh alle nur wegen J.B. da sind. Aber die sitzen währenddessen sowieso nur auf dem Boden rum.

Schön, dass sie wieder da sind! Freundeskreis haben sich für ihr 20-jähriges Bestehen zusammengerafft und statten mit großer Band auch dem Wireless einen Besuch ab. Max Herre, Afrob, Megaloh und Sonnenschein Joy Delalane haben Bock und lassen die guten, alten "Esperanto"-Zeiten aufleben.

Heimliche Highlights: Marteria & Sean Paul

"Wir sind hier auf einem Marteria-Konzert. Und das bedeutet Party!", ruft der Rapper zu den Leuten auf den Rängen. Lange braucht der Vollblut-Entertainer nicht, um die gesamte Halle für sich zu gewinnen. Mit unbändiger Spielfreude und einer Hitsalve aus "Kids", "OMG", "Lila Wolken" und neuem "Rosswell"-Ma(r)terial bringt der "El Presidente" aus Rostock die Arena zum Kochen und stürzt sich bei "Alles verboten" in die Menge. Grandiose Show, die in einem Teppich aus Luftschlangen endet!

Und wer hätte das gedacht: Sean Paul, ausgestattet mit fetter Bling-Bling-Goldkette, liefert mit seiner Band ebenso amtlich ab, lässt reihenweise die Hüften kreisen und die "temperature" steigen. So ziemlich jeder Track ist ein Hit: "Baby Boy", "Get Busy", "Like Glue", "No Lie", "Cheap Thrills, "Shape Of You", "Rockabye", "She doesn't mind". All diese Chartnummern mit Band zu hören, ist wirklich ein Highlight. "We came to party with you!", ruft Sean Paul. Gesagt, getan.

Viereinhalb Sterne für den Starboy

Nein, es geht nicht um Justin Bieber – noch nicht. Es geht um den Mann, der manchmal sein Gesicht nicht fühlen kann. Der Mann, der in letzter Zeit einen Karriereschub hingelegt hat, dass einem schwindelig wird: den motherfucking "Starboy", The Weeknd. Dafür muss das Publikum 20 Minuten länger warten als angesetzt, was sein eigentliches Set auf rund 40 Minuten kürzt. So sind sie, die Amis mit den Starallüren. Wahrscheinlich war die Umbauzeit zu knapp. 

The Weeknd steht während seiner Bombast-Show vor einer riesigen Dreiecks-Konstruktion, die sich beliebig neigen lässt und in unterschiedlichen Farben erstrahlt. Sehr cool und fancy. Aber auch musikalisch ist das verdammt gut. Dieser Mann gehört ganz klar zu den aktuell besten Sängern auf diesem Planeten und auch die Bandmitglieder können einiges. Untermauert wird die Show von einem mächtigen Sound. Der Bass ballert und lässt die Bildschirme wackeln. Leider geil.

Wenn das Bieberfieber ausbricht

Und dann ist da noch jemand. Sportsocken hochgezogen, Hände in den Hosentaschen. Justin Bieber hat wohl gerade seine Netflix-Session auf dem Sofa unterbrochen. Aber es ist vollkommen egal, was der Kerl sagt oder tut: es herrscht Ausnahmezustand.

Es wirkt surreal, wenn man als Zuschauer nur noch auf Smartphone-Bildschirme starrt oder nervige "Influencer" ihre Snapchatstory erweitern, weil sie dafür bezahlt werden – das ganze Konzert über! Jede "You look amazing"-Phrase, jeder Song, jede kleinste Bewegung wird von Heul- und Schreikrämpfen begleitet.

Solide Show

Justin selbst scheint das weniger zu jucken, viel mehr ist das für ihn völlig normal. Locker-lässig zieht er seine Show durch, während seine zahlreichen Tänzer auf der Bühne rumhopsen. Ein paar vollkrasse Choreos hat er auch in petto. Es darf allerdings angezweifelt werden, dass bei den Dancenummern wie "Boyfriend", "Let Me Love You" oder "What Do You Mean" das Headset-Mikro überhaupt an war, so unnatürlich klingt in diesen Parts die Stimme.

Teilweise dröhnt der Bass auch so laut, dass der Gesang untergeht. "Sorry", Justin! Es wird viel getrickst, aber dennoch: bei den Akustik-Versionen von "Cold Water" und "Love yourself" begleitet Justin Bieber sich selbst auf der Gitarre und zeigt auch stimmlich, was er drauf hat und auch bei "Purpose", welches im Funkenregen endet, kann er das beweisen. Beliebers und die, die es noch werden wollen, kommen bei seiner Show voll und ganz auf ihre Kosten.

Das Wireless und der rote Faden

Die erste Ausgabe vom Wireless hat Spaß gemacht. Dafür hat das hochkarätige, interessante Line-Up gesorgt. In der Präsentation des Festival an sich ist jedoch sehr viel Luft nach oben. Die Wireless-Welt ist noch nicht greifbar – weder innen, noch außen. Ein Autoscooter macht noch keinen Jahrmarkt.

Zu lieblos kommt es außerdem rüber, wenn zwischen den Acts und der halbstündigen Umbauphasen kein Programm in der Arena läuft – zumindest am ersten Tag.

Am zweiten Tag des Festivals hingegen wurde das geändert und Besucher konnten sich über Party-Musik während der Pausen freuen. Das Potenzial ist also da. Wir drücken die Daumen für die Fortsetzung!