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"Wenn der wirtschaftliche Druck nicht zu groß ist, entsteht Kultur von selbst."

Veranstalter Julian Hahn aus München über die Entwicklung der Branche und die wirtschaftlichen Zwänge der Kultur

Interview von Michael Erle
veröffentlicht am 31.03.2023

julian hahn liveszene konzertorganisation

Veranstalter Julian Hahn aus München über die Entwicklung der Branche und die wirtschaftlichen Zwänge der Kultur

Julian Hahn (Mitte) mit seinen Brüdern. © Privat

Julian Hahn betreibt mehrere Live-Locations in München. Im Interview spricht er über seine zahlreichen Projekte, die schwierigen Bedingungen der Live-Kultur und die Besonderheiten der Münchner Kulturszene.

Backstage PRO: Herr Hahn, Sie betreiben mehrere Veranstaltungsorte bzw. Projekte für Livemusik in München. Welche sind das genau?

Julian Hahn: Ich bin seit 2013 Gründungsmitglied des Wannda e.V., der von meinem älteren Bruder Daniel ins Leben gerufen wurde. Dieser bespielt seit 2012 Brachflächen mit Zirkuszelten und schafft temporäre Orte der Begegnung und Kommunikation. Formate sind beispielsweise der Wannda Circus im Sommer in Freimann oder der Märchenbazar im Winter am Olympiapark. Zudem habe ich 2016 das Gans am Wasser im Westpark zusammen mit meinem Schulfreund Florian Jund eröffnet, ein Café mit Live-Bühne in Grünen. 

2020 kam dann noch das Gans Woanders mit dem Hexenhaus und die Lozzi dazu, wofür ich meinen Freund Philipp Behringer aus der Ausbildung ins Boot geholt habe. Das Hexenhaus ist eine sehr aktive Live-Bühne in München mit vielseitigen Programminhalten an ungefähr 4 Tagen pro Woche. Das Hexenhaus habe ich in vielen Bereichen selbst geplant und auch die Bauleitung ausgeübt, was für mich eine große Herausforderung war. Die Lozzi wiederum ist eine Konditorei mit Kulturprogramm wie Lesungen, Ausstellungen oder Workshops.

2021 habe ich dann zusammen mit einer weiteren Schulfreundin, Charlotte Hölzig, meinem Bruder Daniel Hahn und unserem bestehenden Dreier-Gespann die Waldschlucht übernommen, die bis heute in der Planung und Umsetzung steckt. Es handelt sich um ein altes Wirtshaus im Grünen, eine Stunde Autofahrt südlich von München. Dort wird ein Kulturprogramm mit Konzerten, Workshops und Kinderprogramm stattfinden.

"Die Genehmigungen dauern oft am längsten"

Backstage PRO: Welche Projekte benötigen aktuell die meiste Zeit und Aufmerksamkeit?

Julian Hahn: Der Wannda e.V. ist sehr zeitintensiv, da das temporäre Bespielen von Freiflächen und die Organisation der damit verbundenen Infrastruktur sehr aufwändig ist. So verbringe ich alleine 3,5 Monate im Jahr nur mit dem Auf- und Abbau von Wannda. Darüber hinaus bin ich immer noch sehr mit der Baustelle in der Waldschlucht beschäftigt, wobei es hier größtenteils an Genehmigungen hängt, die sehr viel länger dauern als ursprünglich geplant. 

Außerdem ist weiterhin der Backsteinkeller des Café Lozzi in der Planung. Das hat tatsächlich 2018 begonnen und ist bis heute nicht in die Bauphase übergegangen. Ich freue mich aber sehr, wenn die Genehmigungen durch sind und wir endlich mit dem Umbau beginnen können. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, wenn aus Theorie und Planungsarbeit auf einmal Realität wird. 

Ganz aktuell baue ich gerade mit Hilfe von Alexandru Dobi, DJ und Ofenbaumeister, den Kachelofen in der Waldschlucht ein. Mitte März beginnen wir mit dem Umbau von Winter auf Sommer im Gans am Wasser. 

Backstage PRO: Wie lange arbeiten Sie schon in der Branche und was haben Sie davor gemacht?

Julian Hahn: Ich habe ursprünglich Rettungsassistent gelernt und längere Zeit im Krankenhaus vorwiegend mit alten Menschen gearbeitet. Ursprünglich wollte ich Pianist werden und liebe auch heute noch klassische und jegliche andere Musik. Nicht zuletzt hatte ich auch mal den Plan, Architekt zu werden, und begeistere mich für die Gestaltung von Orten – sowohl baulich als auch künstlerisch.

All diese Interessen versuche ich in meiner aktuellen Arbeit zu verbinden, was man in verschiedenen Komponenten unserer Projekte wiedererkennen kann. So steht in jedem Betrieb ein Klavier zum freien Spielen und es erfüllt mich, mit älteren Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen und auch einige ältere Stammgäste außerhalb unseres Betriebs zu begleiten. 

"Die Wertschätzung für Kultur ist gestiegen"

Backstage PRO: Wie haben Sie die Corona-Zeit überbrückt? Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hatte sie für Sie?

Julian Hahn: 2020 haben wir das Hexenhaus und die Lozzi umgebaut und konnten die Zeit auf diese Weise sehr gut nutzen, da Bauarbeiten eigentlich durchgehend erlaubt waren. Problematisch war für uns zwischenzeitlich die finanzielle Situation, da Umbauten auch dann viel Geld kosten, wenn man größtenteils alles selbst macht. Deshalb haben wir auch kurz vor der Eröffnung des Hexenhauses einen Spendenaufruf gemacht und große Unterstützung erhalten, was uns sehr geholfen hat. 2021 habe ich die meiste Zeit in der Waldschlucht verbracht, da Wannda erst 2022 wieder normal stattgefunden hat und ich somit deutlich mehr Zeit als sonst hatte. 

Backstage PRO: Wie hat sich die Kultur- und Eventszene Ihrer Meinung seit Anfang 2020 verändert?

Julian Hahn: Eine wirklich positive Entwicklung für die Kulturszene war sowohl die Wertschätzung der Gesellschaft als auch das Bundes-Förderprogramm "Neustart Kultur". Für uns besonders wichtig waren die Teilprogramme, die vom Bundesverband Soziokultur verwaltet wurde. Aktuell setze ich mich stark dafür ein, dass dieses Förderprogramm am Leben erhalten wird, weil ich der Meinung bin, dass es kaum ein Förderprogramm gibt, was so vergleichsweise schnell und unkompliziert bei den Künstler/innen ankommt und gleichzeitig die gesellschaftliche Teilhabegerechtigkeit fördert. 

"Wir sind von Fördergeldern abhängig"

Backstage PRO: Wie beurteilen sie die Lage, falls es zu dieser Verlängerung nicht kommt?

Julian Hahn: Es wird tatsächlich interessant, wie es jetzt weitergeht, da viele Programminhalte im Verlauf der letzten zwei Jahre nur aufgrund der Förderung durchgeführt werden konnten und deren Wegfall nicht vollständig von uns kompensiert werden kann. Es bleibt also nur, das Programm deutlich zu kürzen, was schade für Besucher/innen auf der einen Seite ist und weniger Einnahmen für Künstler/innen auf der anderen Seite bedeutet. 

Backstage PRO: Es besteht keine Möglichkeit, das bisherige Programm aus eigenen Mitteln zu finanzieren?

Julian Hahn: Wir verfügen zwar selbst ein Budget von jährlich 40.000€ für Künstler/innen-Gagen, die wir aus der Gastronomie erwirtschaftet haben. Dieses ersetzt aber nicht im Ansatz die Förderungen aus Neustart Kultur. Außerdem können wir diese Mittel nur einsetzen, wenn wir ausreichend Einnahmen haben, was bei der aktuellen Entwicklung sehr schwierig zu prognostizieren ist. 

Backstage PRO: Welche Rolle spielt die Inflation?

Julian Hahn: Aktuell hat sich am Beispiel Gans am Wasser im Januar die Miete um 29 Prozent erhöht, die Stromkosten sind um 160 Prozent gestiegen, der Wareneinkauf hat sich um ca. 30 Prozent verteuert, Frittieröl ist um 200 Prozent teurer geworden und Personalkosten sind ebenfalls stetig am steigen, da wir selbstverständlich auf die aktuelle Inflation reagieren müssen. 

"In München trifft man als Veranstalter oft auf Widerstand"

Backstage PRO: Wie unterscheidet sich München spezifisch als Veranstaltungsort von vergleichbaren Städten? 

Julian Hahn: Ich habe das Gefühl, dass sich Kultur in vielen anderen Städten ungehinderter entwickeln kann. In München muss man schon sehr darauf achten, dass alle Schritte mit der Verwaltung abgestimmt sind, was nicht nur an Kontrollen durch die Behörden liegt, sondern auch an Mitbürger/innen, die sich oft bei Behörden nach Genehmigungen erkundigen. Offene Türen haben wir mit unseren Projekten auf jeden Fall nicht immer eingerannt. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass oftmals das Vertrauen fehlt, sich über bekannte Strukturen hinaus zu wagen. 

Backstage PRO: Ist das in anderen Städten besser?

Julian Hahn: Ich habe das Gefühl, dass das in anderen Städten weniger ein Thema ist und auch die Bürger/innen eine freie Stadtentwicklung mehr unterstützen. Einerseits ist Sauberkeit und Sicherheit ein sehr lebenswerter Aspekt in unserer Stadt, den wir alle sehr schätzen. Auf der anderen Seite sollte dieser nicht zu Lasten der kulturellen Entwicklung gehen. Ich denke, ein gesundes Mittelmaß ist erstrebenswert und ich finde auch, dass sich hier in den letzten 10 Jahren in der ganzen Stadt viel getan hat. 

Backstage PRO: Gibt es dafür ein Beispiel?

Julian Hahn: Ein tolles Beispiel sind die Schanigärten (Außengastronomie auf öffentlichen Flächen, Anm. d. Red). Die Mehrheit gibt sich sehr viel Mühe, und es ist eine Vielfalt entstanden, die unser Stadtbild belebt, wo sonst Autos geparkt hätten. Ich habe oft mit Mitgliedern der Verwaltung über öffentliche Flächen diskutiert. Während manche die Meinung vertreten, mit einem Schanigarten würde dem Betreiber öffentlicher Grund für eine gewerbliche Nutzung zugesprochen, sehe ich eine breite Mehrheit, die von der Nutzung dieser Schanigärten profitiert. Ein parkendes Auto steht für mich weniger für eine gemeinschaftliche Nutzung öffentlicher Flächen als ein belebter Schanigarten. 

"Die Kulturszene lebt von den Ausnahmen"

Backstage PRO: Die Kulturszene der Stadt steht unter dem Druck sehr hoher Mieten. Welcher Kompromisse müssen Veranstalter und Künstler hier eingehen?

Julian Hahn: Die Kulturszene lebt definitiv von den Ausnahmen. Die beste Förderung für Kultur ist eine günstige Miete in Verbindung mit verfügbaren Flächen oder Gebäuden. Es kommt nicht darauf an, ob das ein Atelier, eine Freifläche oder eine Kleinkunstbühne ist. Wenn der wirtschaftliche Druck nicht zu groß ist, entsteht Kultur von selbst. Und auch wenn man es kaum glaubt, gibt es auch diese Orte in München – sowohl bei Privaten als auch bei der Stadt. Man muss sie nur suchen. 

Backstage PRO: Und wenn man sie gefunden hat?

Julian Hahn: Wichtig ist, diese dann auch zu erhalten, indem der gesellschaftliche Wert erkannt und nicht auf eine Miete reduziert wird. Leider stellen auch wir immer wieder fest, dass mit dem Erfolg eines Projektes oftmals die Haltung entsteht, dass Mieten nun angehoben werden können oder sogar müssen, was im Umkehrschluss aber bedeutet, dass das Projekt so nicht mehr funktioniert.

Man ist dann gezwungen, Preise anzuheben, was wiederum nach außen das Bild abgibt, es wäre zunehmend das finanzielle Interesse in den Vordergrund gerückt. Darauf folgt schnell der bekannte Satz: „Das war früher so ungezwungen und günstig.” Dass eine Veränderung aber oftmals durch Einflüsse von außen entsteht, sehen die meisten Besucher*innen nicht. Das ist dann auch der Kompromiss, den man irgendwann notgedrungen eingehen muss: Die Preispolitik den Unkosten anpassen oder Pleite gehen. 

"Es ist immer bequem, etwas nicht zu tun"

Backstage PRO: Wie oft haben Sie mit dem Gedanken gespielt, darauf zu verzichten und stattdessen ein paar Tische mehr aufzustellen?

Julian Hahn: Mit dem Gedanken spiele ich immer dann, wenn Konflikte mit Anwohner entbrennen und Energie und Zeit in Anspruch nehmen oder ein Monat besonders schlecht läuft und die Einnahmen die Kosten nicht mehr decken. Ich denke, unser Leben könnte deutlich stressfreier ohne Kleinkunstbühne sein. Allerdings erinnere ich mich dann immer daran zurück, warum wir diese Bühne haben und dass der Mehrwert für so viele Menschen weitaus größer ist als mein persönliches Ärgernis.

Es ist immer bequem, etwas nicht zu tun. Mit dieser Einstellung wird sich aber auch nichts ändern – in keinem Bereich. Und eine Kleinkunstbühne kann so viel sein. Ein Sprachrohr für wichtige Themen, eine Plattform für Kommunikation, ein Sprungbrett für Künstler/innen. Ein realer Ort neben der digitalen Welt, wo noch ein Austausch stattfinden kann – deshalb machen wir weiter.

Backstage PRO: Auf welches Projekt freuen Sie sich aktuell ganz besonders?

Julian Hahn: Im Sommer steht hoffentlich die Eröffnung der Waldschlucht an. Darauf freue ich mich schon sehr, weil es das erste ländliche Projekt ist, das wir machen. Die Schlucht hat als ehemaliges Freilichttheater, Freibad und Wirtschaft eine eigene Geschichte und ist durch die Abgeschiedenheit mitten im Wald inmitten der Natur wirklich sehr besonders. 

Eben so sehr freue ich mich auf das Café Lozzi, dessen Planung nun schon seit 2018 geht. Im Herbst soll hier eine Kleinkunstbühne im Backsteinkeller eröffnen. Mal sehen, wie die Wirklichkeit wird.

Locations

Cafe Gans am Wasser

Cafe Gans am Wasser

Mollsee im Westpark, 81373 München

Gans Woanders

Gans Woanders

Pilgersheimer Straße 13, 81543 München

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