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Ausblick aufs Future Music Camp 2021

Data Scientist Ruwen Wieman über die Auswirkungen von Fake Streams und Lösungsansätze

Interview von Florian Endres
veröffentlicht am 26.03.2021

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Data Scientist Ruwen Wieman über die Auswirkungen von Fake Streams und Lösungsansätze

Ruwen Wieman. © Privat

Bei seiner Keynote beim Future Music Camp der Popakademie Baden-Württemberg zeigt Datenwissenschaftler Ruwen Wieman live, wie einfach es ist, Fake Streams zu kaufen. Im Interview spricht er über die Folgen von Fake Streams für die Streaming-Ökonomie und diskutiert Strategien gegen gekaufte Streams.

Backstage PRO: Ruwen, deine Session beim Future Music Camp 2021 steht unter dem Motto "Fake Streams – so einfach geht's". Du zeigst live, wie Fake Streams funktionieren. Machst du es den Musiker/innen damit nicht zu leicht?

Ruwen Wieman: Wer Fake Streams haben will, der muss einfach nur eine Suchmaschine bemühen und kann direkt loslegen. Meines Erachtens machen es in erster Linie die Streamingdienste zu leicht. Die Lösung kann nicht darin liegen, auf die Unwissenheit oder Ehrlichkeit der Künstlerinnen und Künstler zu setzen. Stattdessen müssen Fake Accounts konsequent gelöscht werden. Aber keine Angst, ich zeige keinen Code, mit dem man wirklich viele Streams generieren oder die Charts manipulieren kann.

"Fake Streams sind Gift für Vorhersagemodelle"

Backstage PRO: Wie kamst du dazu, dich mit dem Thema zu beschäftigen?

Ruwen Wieman: Ich beschäftige mich beruflich mit Vorhersagemodellen für Musik, also beispielsweise, wie sich die Wiedergabezahlen und Umsätze von Songs, Alben, Artists, Genres oder Labels in den nächsten 12 Monaten entwickeln werden.

Für diese Modelle sind Fake Streams ein riesiges Problem: Die völlig zufällig und plötzlich erscheinenden Sprünge in den Wiedergabezahlen von Streaming-Titeln machen die Vorhersagemodelle kaputt. Das Erkennen von Fake Streams ist damit für eine möglichst genaue Analyse und Vorhersage von Streaming-Trends genauso wichtig wie das entwickelte Modell selbst. Das Modell ist immer nur so gut wie die Daten, mit denen man es füttert.

Backstage PRO: Wie sieht es mit den weiteren Auswirkungen von Fake Streams auf die Streaming-Ökonomie aus? Schaden die Streams also nicht nur Prognosemodellen, sondern auch den "ehrlichen" Künstlerinnen und Künstlern, die eben nicht betrügen? 

Ruwen Wieman: Nur die Streamingdienste und die Vertriebsgesellschaften hätten die Daten, um einen genauen Prozentsatz zu ermitteln, daher kann ich nur vermuten. Ich denke jedoch, dass der Schaden zwischen 10%-20% aller Streams liegt – wer also ehrlich ist, verliert 10 bis 20 Prozent seiner Auszahlungen.

"UCPS hilft gegen Streaming-Betrug"

Backstage PRO: Welche Möglichkeiten gibt es, gegen Fake Streams und Streaming-Betrug vorzugehen? Würde beispielsweise das User Centric Payment System helfen, für dessen Einführung sich etwa Deezer bereits seit längerem einsetzt und das SoundCloud inzwischen implementiert hat?

Ruwen Wieman: Das User Centric Payment System würde einigen Arten der Streaming-Manipulation tatsächlich einen Riegel vorschieben, was zu begrüßen wäre. Allerdings wäre die Abrechnung dann sehr intransparent. 

Backstage PRO: Inwiefern?

Da die Auszahlungen mit UCPS nicht mehr direkt nach der Zahl der Streams erfolgen, sondern anteilig nach der Zahl der Hörer/innen, würde etwa ein Artist nur einen Euro für 1000 Streams erhalten, während andere Musiker/innen beispielsweise drei Euro für die gleiche Anzahl von Streams erhalten – und das ohne eine Möglichkeit, die Zahlen zu überprüfen. 

Solange das Abrechnungsmodell nicht vollkommen transparent funktioniert, haben viele Labels berechtigterweise Angst vor UCPS. Ich persönlich fände es als Streaming-User und Musikfan jedoch großartig, wenn ich wüsste, dass mein Geld auch zu "meinen" Künstlerinnen und Künstlern geht.

→ Eine ausführliche Diskussion des UCPS-Modells findest du in unserem Interview mit Richard Wernicke von Deezer.

"Labels stecken in einem Dilemma"

Backstage PRO: Stichwort Labels: Haben diese ein Interesse daran, gegen Fake Streams vorzugehen – oder sind sie "willige Komplizen", wie es ihnen häufiger vorgeworfen wird?

Ruwen Wieman: Labels und Vertriebsgesellschaften haben prinzipiell ein sehr großes Interesse daran, das Problem des Streaming-Betrugs zu beseitigen, da hier viel Geld verloren geht. Labels und Vertriebsgesellschaften kennen jedoch auch nur die eigenen Daten. Das bedeutet, dass ein Label im schlimmsten Fall Fake Streams der selbst vertriebenen Songs bekämpft, während andere Labels munter weiter faken – womit das Label, das sich gegen Fake Streams engagiert, sich selbst schadet.

Backstage PRO: Die Labels stecken also in einem Dilemma?

Ruwen Wieman: Ja. Ganz fundamental lässt sich feststellen: Das größte Ziel der Labels bzw. Vertriebsgesellschaften ist mehr Marktanteil. Fake Streams eigener Songs bekämpfen heißt, den eigenen Marktanteil zu verkleinern. Gleichsam gilt: Das größte Ziel der Streamingplattformen sind mehr User. Indem eine Plattform jedoch Fake-User löscht, vor allem Premium-Fake-User, erreicht sie das genaue Gegenteil.

"Es braucht unabhängige Kontrolle"

Backstage PRO: Wie sähe deiner Meinung nach eine Lösung für dieses Problem aus?

Ruwen Wieman: Solange die Lösung des Problems den fundamentalen Grundzielen und der daran gekoppelten Boni der beteiligten Akteure diametral entgegensteht, ist die einzige Möglichkeit, auf "das Gute im Menschen" zu vertrauen. Im Kapitalismus führt dies gewöhnlich nur dazu, dass am Ende der Ehrliche der Dumme ist.

Backstage PRO: Welchen Weg müsste man gehen, damit das nicht passiert?

Ruwen Wieman: Ich plädiere für eine unabhängige Kontrollinstanz, beispielsweise etwa Verbände in Kooperation mit Universitäten. Diese sollte die Daten der Vertriebsgesellschaften und Streamingservices erhalten, um anhand derer dann Manipulation festzustellen und eine korrekte und transparente Auszahlung zu gewährleisten. Andere, eher technische Lösungen adressieren meines Erachtens eher die Symptome, nicht aber die strukturelle Grundproblematik von Fake Streams und Streaming-Betrug. 

Backstage PRO: Vielen Dank für deine Zeit!

Ruwen Wieman beim Future Music Camp 2021

Ruwen Wiemans Keynote "Fake Streams – So einfach geht's" im Rahmen des Future Music Camp findet am Donnerstag, den 15. April 2021 von 13:45 bis 14:15 Uhr statt.

Wegen der Corona-Pandemie wird das Future Music Camp in diesem Jahr vollständig digital ausgerichtet. Um an den Keynotes teilzunehmen, müsst ihr euch lediglich unter diesem Link kostenlos anmelden!

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