Roger Willemsen: "Nur bei Bill Evans bin ich völlig unkritisch. Ich weiß auch nicht, was es an Bill Evans zu kritisieren geben soll". Fotostrecke starten

Roger Willemsen: "Nur bei Bill Evans bin ich völlig unkritisch. Ich weiß auch nicht, was es an Bill Evans zu kritisieren geben soll".

"Das Enjoy Jazz ist das beste Festival in ganz Deutschland", lobte Roger Willemsen. "Sie können froh sein, dass Sie so etwas in Mannheim haben." Es gebe keine andere Bühne, auf der er so oft auftrete wie in der Mannheimer Alten Feuerwache. Journalist, Autor und Moderator Roger Willemsen kam erneut mit dem Programm "My Favourite Things" im Rahmen des Enjoy-Jazz-Festivals ins ehemalige Spritzenhaus, um erlesene Platten aufzulegen und Wissenswertes darüber zu erzählen. Kurzweilige drei Stunden.

{image}War die Erstauflage im vergangenen Jahr schon sehr gut besucht, so sind bei der Fortsetzung von "My Favourite Things" bereits im Vorfeld alle Sitzplätze ausverkauft, nur noch Stehplätze sind verfügbar. Im Publikum sitzen jede Menge Frauen, was belegt: Intelligenz macht sexy. "Sieht aus, als wäre der Schuldnerberater gekommen", scherzt Roger Willemsen, als er seine schwarze Ledertasche abstellt und daraus stapelweise CDs entnimmt, teils aus obskuren Plattenläden in Kapstadt zusammengetragen. "Das war ein langer Rechercheweg, damit ich Ihnen das heute vorspielen kann", verrät Willemsen zu dem Stück Iyawo von Omar Sosa. Roger Willemsen macht uns den Frank Laufenberg, aber tiefgründiger, als es ein Laufenberg je könnte. Roger Willemsen möchte keine Dublette abliefern und deshalb andere Wege gehen: Erzählte der Journalist 2007 ausschließlich kleine Anekdoten, wählt der begeisterungsfähige Willemsen nun einen etwas musiktheoretischeren Ansatz, ohne dabei zu langweilen. Gunther Schullers Third-Stream-Theorie reißt er an. "Ich möchte die Musik da abholen, wo sie ihren Ursprung hat, nämlich in Afrika", erklärt Willemsen, der an den Jazz mit reinem Gefühl herangeht. "Ich bin kein Experte", gesteht DJ Roger oben auf seiner Kanzel. Musik für die Verliebten will er spielen, zum Knutschen.

{image}Aus Afrika kommen recht einfache Tunes, erst in Verbindung mit europäischen und amerikanischen Einflüssen entwickelt sich daraus der Jazz. So begaben sich findige Produzenten in die Diamantenminen und auf die Baumwollplantagen, um die dort schuftenden schwarzen Wanderarbeiter ins Tonstudio mitzunehmen. Allerdings ließen sich diese Menschen nicht so leicht zum Singen animieren, da sie Angst hatten, das Mikrofon raube ihnen die Stimme. In der Nummer Thembi des Tenorsaxophonisten Pharoah Sanders, ein Schüler John Coltranes, gibt nach Willemsen der Bass die Textur vor, die Drums bilden den Hintergrund. "Es eröffnen sich Einfallswinkel für Melodien, die für den Hörer anstrengend sein können", findet der Referent. "Bass-Motive, die sich mantraartig wiederholen, wie der Basso continuo in der Barockmusik." John Coltrane ließ Willemsen beim letzten Mal aus Respekt bewusst außen vor. "Man kann über Coltrane nur auf Knien sprechen", ist sich Roger Willemsen sicher. Einmal soll eine Musikkritikerin mit absolutem Gehör einem Club-Konzert von John Coltrane beigewohnt haben, die sich Coltranes Saxophonsolo notierte und daheim transkribierte, um diese Notation dem Musiker mit der Bitte vorzulegen, das zu spielen. "Tut mir Leid, das ist mir zu schwer", habe darauf John Coltrane geantwortet. Von Coltrane gibt es in der Alten Feuerwache After The Rain auf die Ohren, ein geräuschartiger Song. Im Jazz seien Gefühle wichtig, sich ständig wandelnde Gefühle. "Ich meine damit kein C-Dur-Britney-Spears-Werk, bei dem im ersten Takt die Gefühle schon feststehen und sich nicht mehr ändern", erläutert Willemsen, der die CD-Box "Das klingende Lexikon des Jazz" eingesprochen hat.

{image}Nicht selten sind Musiker einsame Solitäre, die eine robuste Persönlichkeit besitzen. "Leute, die dreihodig sein könnten", verdeutlicht Willemsen an dem vor Kraft strotzenden Art Pepper, von dem es Why Are We Afraid? zu hören gibt. Oder Hunger leidende Künstler wie Eric Dolphy, der später mit Nahrungsmittel gefüllte Plastiktüten in Tonstudios schleppte, um bedürftige Musiker zu nähren. Kühn stellt der plaudernde Discjockey die Behauptung auf, Miles Davis sei nicht der beste Trompeter – sein Timing sei jedoch grandios gewesen. "Miles Davis dehnte seine Pausen endlos aus, bis man dachte, der Ton muss jetzt kommen", so Roger Willemsen. Der Song Mensch von Herbert Grönemeyer ist für ihn ein Schmachtfetzen. Wie viel Substanz aber in einfacher Popmusik stecken kann, zeigte ihm der deutsche Pianist Frank Chastenier, der die Melodie daraus in eine hingetuschte Klangtraube verwob. "Etwas, das ich vorher nicht erkennen konnte", schätzt der Referent diese dem Jazz zurückgeführte Version. In der Szene umstritten ist Wynton Marsalis, den viele als typischen Mainstream-Jazzer verabscheuen, bei Willemsen aber großen Anklang findet. Deswegen spielt er den Mannheimer Zuhörern die Nummer The Seductress vor. Die Frau als Verführerin. "Sollten Sie sich in diesem Stück wiedererkennen, sollten Sie sich schämen", mahnt Willemsen. Hoffentlich gibt es nächstes Jahr einen dritten Teil von "My Favourite Things".

My Favourite Things II Playlist

  1. Ali Farka Touré – Kadi Kadi (Album: In The Heart Of The Moon)
  2. Pharoah Sanders – Thembi (Album: Thembi)
  3. John Coltrane – After The Rain (Album: Dear Old Stockholm)
  4. Eric Dolphy – Music Matador (Album: Complete Memorial Album Sessions)
  5. Abdullah Ibrahim – The Wedding (Album: Good News From Africa)
  6. Omar Sosa – Iyawo (Album: Mulatos)
  7. Selaelo Selota – For God So Loved Us (Album: Enchanted Gardens)
  8. Charles Lloyd – Te Amaré (Album: Lift Every Voice)
  9. Oliver Nelson – Night Lights (Album: More Blues And The Abstract Truth)
  10. Wynton Marsalis – The Seductress (Album: Standards & Ballads)
  11. Art Pepper – Why Are We Afraid? (Album: Gettin’ Together!)
  12. Tommy Flanagan – My Ship (Album: The Trio)
  13. Ahmad Jamal – Snowfall (Album: Cross Country Tour 1958-1961)
  14. Jacky Terrasson – Le jardin d’hiver (Album: Smile)
  15. Bill Evans – Soirée (Album: From Left To Right)
  16. Oscar Peterson – Night Time (Album: Oscar’s Ballads)
  17. John Coltrane – My Favorite Things (Album: The Heavyweight Champion: The Complete Atlantic Recordings)
  18. Frank Chastenier – Mensch [Grönemeyer-Cover] (Album: For You)
  19. Brad Mehldau – Blackbird [Beatles-Cover] (Album: The Art Of The Trio)
  20. James Carter – FreeReggaeHiBop (Album: Conversin’  With The Elders)
  21. Chris Connor – I Hear Music (Album: Chris)
  22. Bryan Ferry – As Time Goes By (Album: As Time Goes By)

 

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