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Ein erster Hoffnungsschimmer

Warum es bald wieder Open Air-Konzerte geben und dennoch nicht alles wie früher sein wird

Spezial/Schwerpunkt von Daniel Nagel
veröffentlicht am 02.06.2020

coronakrise liveszene musikmarkt

Warum es bald wieder Open Air-Konzerte geben und dennoch nicht alles wie früher sein wird

Vieles spricht dafür, dass die Infektionsgefahr mit dem Coronavirus unter freiem Himmel relativ gering ist. © Torsten Reitz

Musiker und Veranstalter warten sehnsüchtig darauf, dass wieder reguläre Konzerte stattfinden können. Besonders gute Chancen scheinen Open Air-Veranstaltungen zu haben, denn die Ansteckungsgefahr mit dem neuartigen Coronavirus ist im Freien wohl gering. Das aber löst nicht alle Probleme.

Während es im Augenblick an einer Perspektive für Musikclubs und Diskotheken zur Wiedereröffnung gänzlich fehlt, sieht die Sache bei Open Air-Konzerten und anderen Veranstaltungen unter freiem Himmel anders aus. Das liegt daran, dass die Infektionsgefahr mit dem neuartigen Coronavirus im Freien deutlich geringer ist als in geschlossenen Räumen.

Kaum Infektionen im Freien

Eine chinesische Studie (Link zum PDF) fand bei der Untersuchung von mehr als 7.000 Infektionen nur einen einzigen Fall einer Coronavirus-Infektion, der nachweislich auf einen Kontakt zweier Personen unter freiem Himmel zurückzuführen war. 

Eine japanische Studie, die bisher nur als Preprint vorliegt, kam im Zuge einer Risikoeinschätzung zu dem Ergebnis, die Wahrscheinlichkeit, sich in geschlossenen Räumen zu infizieren, sei 18,7 Mal höher als im Freien. Als Basis dienten 110 Coronavirus-Infektionen in der Folge verschiedener Ausbrüche in Japan.

Mindestabstand überflüssig?

Wenn die Wahrscheinlichkeit, sich im Freien zu infizieren so viel geringer ist, dann gibt es stichhaltige Gründe den bislang vorgeschriebenen Mindestabstand von 1,5 Metern nicht als das letzte Wort zu betrachten. 

Selbst der vorsichtig agierende Virologe Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité, schlug in einem kürzlich veröffentlichten Podcast vor, den Mindestabstand im Freien auf einen Meter zu reduzieren oder sogar darauf ganz zu verzichten. (Link zum Podcast, das Youtube Video ist aktuell offline.)

Ein Hoffnungsschimmer für die Eventbranche

Das wäre nicht nur eine große Erleichterung für die Gastronomie, sondern auch für Konzertveranstalter, die ihr Open Air-Gelände für eine größere Zahl an Besuchern öffnen könnten. Damit wäre die Wirtschaftlichkeit bestuhlter Konzerte leichter zu erreichen, wovon Künstler und die gesamte Veranstaltungsbranche profitieren würden.

Bei diesen Überlegungen handelt es sich zum jetzigen Zeitpunkt um Zukunftsmusik, denn neue Regeln in Rheinland-Pfalz erlauben zwar eine Besucherzahl von bis zu 250 Personen bei Veranstaltungen im Freien, verlangen dabei aber die Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 Metern.

Andere Bundesländer wie Baden-Württemberg unterscheiden gar nicht zwischen Veranstaltungen in geschlossenen Räumen und im Freien und beschränken die maximale Besucherzahl auf 100.

Entscheidung im Sommer

Mittelfristig dürfte sich das vor allem dann ändern, wenn sich im Verlauf des Sommers keine neuen Ausbrüche auf Zusammenkünfte oder Veranstaltungen unter freiem Himmel zurückführen lassen und wissenschaftliche Studien die bisherigen Ergebnisse bestätigen.

Tatsächlich geschahen die bisherigen Superspreader-Ereignisse, in deren Verlauf sich Dutzende Menschen infizierten, stets bei Versammlungen von Menschen in geschlossenen Räumen wie jüngst in einem Restaurant in Leer oder bei einem Gottesdienst in Hanau.

Enger Kontakt ist problematisch

Open Air-Konzerte oder Festivals, die auf Körperlichkeit und engen Kontakt über Stunden ausgelegt sind, sind allerdings weitaus problematischer als beispielsweise bestuhlte Open Air-Veranstaltungen. 

Wie die Virologin Müge Çevik von der St. Andrews Universität in Schottland in einem lesenswerten Twitter-Thread unter Einbeziehung einer Vielzahl von Studien erläutert, hängen Coronavirus-Infektionen meistens mit engem zwischenmenschlichen Kontakt über einen längeren Zeitraum zusammen. 

Obwohl es wahrscheinlicher ist, sich in geschlossenen Räumen zu infizieren, besteht auch die Möglichkeit der Infektion im Freien, wenn Menschen gemeinsam längere Zeit feiern und dabei engen Kontakt pflegen. Das zeigt der Fall einer Pool Party von High-School-Schülern, die einen Ausbruch im US-Bundesstaat Arkansas verursachte.

Wie hoch das Infektionsrisiko allerdings bei einem Musikfestival oder bei Fußballspielen ist, bei denen Menschen dicht zusammenstehen und (mit)-singen, muss die Wissenschaft erst noch klären.

Ist der Weg die Gefahr?

Eine andere Problematik betrifft die Anreise. Obwohl das Event an sich im Freien stattfindet, reisen zu großen Festivals oder Open-Air Veranstaltungen viele Menschen mit dem ÖPNV an. Studien aus Asien deuten aber daraufhin, dass gerade dort ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht. 

Allerdings muss sich erst noch zeigen, ob sich die Ergebnisse aus Asien auf Deutschland und Europa übertragen lassen, denn der ÖPNV in Japan und China lässt sich in vielerlei Hinsicht nicht mit den Verhältnissen in Deutschland vergleichen.

Die dortigen Systeme sind in der Regel moderner, weil jüngeren Datums. Außerdem herrscht dort eine Enge, die den meisten Deutschen bestenfalls aus den Stoßzeiten in den größten deutschen Städten bekannt sein dürfte. Im Vorfeld und Nachgang von Massenveranstaltungen sind allerdings Busse und Bahnen auch hierzulande oft überfüllt. 

Bevor Menschen wieder sorglos auf Festivals feiern können, müssen noch viele Fragen beantwortet werden. Und natürlich ist die Zukunft von Open Air-Konzerten auch davon abhängig, wie sich die Corona-Pandemie in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt.

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