Ian Anderson mit dem Instrument seiner Wahl.

Ian Anderson mit dem Instrument seiner Wahl. © Ian Anderson

Vor 2000 euphorisierten Zuschauern im Mannheimer Rosengarten zelebriert Ian Anderson, Sänger und Songwriter von Jethro Tull, sein legendäres Konzeptalbum "Thick As A Brick" und dessen jüngst erschienenen Nachfolger. Angesichts der Fülle an Showelementen, Schauspieleinlagen, Projektionen und Filmen fühlte man sich fast an Musiktheater erinnert - was vermutlich genau Andersons Ziel war, denn so gelingt es ihm, seine progressiven Ambitionen der 1970er bühnengemäß zu inszenieren.

Thick As A Brick ist ein ebenso legendäres wie schwieriges Album. Trotz seines Rufs als Meisterwerk des Prog-Rocks besteht es im Grunde aus herausragenden 10 Minuten zu Beginn, einem ebenso grandiosen Abschluss und 30 Minuten "Rest" von durchaus unterschiedlicher Qualität. Ian Andersons Band Jethro Tull ist vor der Liveaufführung des Albums stets zurückgeschreckt und hat nur längere Passagen gespielt. Erst mit seiner aktuellen Tourband wagt sich Ian Anderson an die Gesamtinszenierung der epischen Komposition. Im zweiten Teil des Konzerts spielen Anderson und Band dann den kürzlich erschienenen Nachfolger Thick As A Brick 2: Whatever Happened To Gerold Bostock? Obwohl das Album aus einzelnen Liedern besteht, behandelt Anderson es als eine kontinuierliche Komposition.

Verantwortlich für diese Entwicklung ist vermutlich auch die Zusammenarbeit mit Steven Wilson, der nicht nur Thick As A Brick 2 abmischte, sondern auch den Jethro Tull-Klassiker Aqualung für eine Wiederveröffentlichung im letzte Jahren aufpolierte. Wilsons Enthusiasmus für die Musik der 1970er und speziell für Jethro Tull motivierte Anderson möglicherweise nicht nur den Nachfolger von Thick As Brick in Angriff zu nehmen, sondern auch mit dem Klassiker auf Tour zu gehen.

{image}Damit verabschiedete er sich von den längst zur Routine erstarrten Best-Of-Shows der letzten Jahrzehnte, die aus den immer gleichen Songs aus der Frühzeit von Jethro Tull bestanden. Mit seiner exzellenten Tourband, aus der Schlagzeuger Scott Hammond herausragt, vermag er, der Komplexität beider Alben, den Brüchen und Tempowechseln gerecht zu werden. Es entsteht dadurch ein einheitlicher, harmonischer Gesamteindruck, der auf der klanglichen Ausgewogenheit und der exzellenten Abstimmung der Band beruht.

Was die Zuschauer im ausverkauften Rosengarten in Mannheim erleben, ist aber kein reines Konzert, sondern Musiktheater mit Videoeinspielungen, Bildprojektionen und Schauspieleinlagen, für die neben dem stets präsenten und überaus gut gelaunten Anderson Schaupieler und Sänger Ryan O'Donell verantwortlich zeichnet.

Es ist kein Geheimnis, dass Ian Anderson seine Stimme schon in den frühen 1980er ruiniert hat und seitdem nicht mehr über die Ausdrucksstärke und die Flexibilität verfügt, um seine Lieder adäquat zu singen. O'Donnell füllt diese Lücke, indem er vor allem im ersten Teil der Show einen Gutteil des Gesang übernimmt, aber auch gleichzeitig als Schauspieler in die Rollen schlüpft, die der junge Ian Anderson früheren Jahren selbst auf der Bühne übernahm.

Andersons spezieller Humor spielt dabei eine wichtige Rolle. Ein Handyanruf, eine Einspielung einer Violinistin über Skype, ein mit Flossen und Taucheranzug auf die Suche nach dem Meer durch England spazierender Froschmann und eine gefakte Prostatavorsorgeuntersuchung zeigen, dass nicht nur die Musik, sondern auch der Humor aus den 1970ern stammt – was dem ergrauten Publikum freilich nur recht ist.

Ian Anderson scheint erst im Alter gelernt zu haben, dass es nichts Schlimmes ist, Aufgaben zu delegieren und nicht alles selbst zu schultern. Die Entscheidung, O'Donnell einzubeziehen, ist auf jeden Fall richtig, denn der relativ flache Gesang von Anderson vermag kein ganzes Konzert zu tragen. Dennoch ist Anderson überaus präsent, spielt Gitarre, sehr viel Flöte und singt große Teile von Thick As A Brick 2, das natürlich besser an sein jetziges Stimmvermögen angepasst ist. Seine wiedererstarktes Selbstbewusstsein zeigt sich auch in seiner fast überschäumenden Energie: Anderson geht lange Wege auf der Bühne, steht Schulter an Schulter mit O'Donnell, singt und spielt als habe er richtig Lust daran. 

Mit dieser neugefundenen Leidenschaft ist es Ian Anderson, auch gelungen, sein Publikum wiederzugewinnen. Natürlich sind viele der alten Progfans gerade deshalb im Konzert, um einmal Thick As A Brick in voller Länge zu erleben. Aber auch der zweite Teil, die Fortsetzung, überzeugt mit einer gelungenen Dramaturgie, gebrochen am eigenwilligen Humor von Ian Anderson, der es ebenfalls sich nicht nehmen lässt, als englischer Landmann in einem Video englisches Elitedenken in derselben Weise zu satirisieren, die schon Thick As A Brick von 1972 ausgezeichnet hat.

Als alle Zuschauer sich am Ende von ihren Sitzen erheben, wirft Anderson wie gewohnt den riesigen Ball ins Publikum und kehrt für eine Zugabe mit einer epischen Version von Locomotive Breath zurück. Seine Freude am Jubel des Publikums ist spürbar echt und man fragt sich, ob er selbst eine solche Wende zum Guten für möglich gehalten hätte. Ian Anderson hat Frieden geschlossen mit sich und der Welt.

Setlist

Thick As A Brick | Thick As A Brick 2 | Locomotive Breath

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