Billy Bragg zählt seit knapp 30 Jahren zu Englands bedeutendsten Songwritern. Fotostrecke starten

Billy Bragg zählt seit knapp 30 Jahren zu Englands bedeutendsten Songwritern. © Daniel Nagel

In der vollbesetzten Ringkirche in Wiesbaden spielt ein blendend gelaunter Billy Bragg vor enthusiastischem Publikum ein außergewöhnliches langes und inspiriertes Konzert. Frei mit der Setlist hantierend trägt er mit erkennbarer Freude nicht nur seine allseits bekannten Klassiker vor, sondern auch eine Auswahl neuerer Songs und Coverversionen zu Ehren von Woody Guthrie. Dazu unterhält er das Publikum mit Geschichten, Anekdoten und seinem gewohnten politischen Engagement. Was so ein Sieg im Elfmeterschießen doch alles bewirken kann!

Billy Bragg hat einen Triumph zu feiern. Es ist nicht sein eigener, aber in gewisser Form ist es der Triumph aller Engländer: der Sieg des FC Chelsea im Elfmeterschießen gegen den FC Bayern München im Finale der Champions League. In diesem Augenblick ist der gesamte Internationalismus der Arbeiterbewegung vergessen, es zählt nicht, dass ein russischer Oligarch Chelsea besitzt, es dominiert der gute alte Sport-Nationalismus. Aber wer wollte es Billy Bragg verübeln?

Das Publikum jedenfalls nicht, im Gegenteil, für seine unverhohlene Freude erntet Bragg viel Applaus von den England wohlgesonnenen Zuschauern. Auf diese Weise kommen die Besucher in den Genuss eines außergewöhnlich langen Konzerts, denn Bragg spielt im Verlauf des knapp zweistündigen Soloauftritts mehr als zwanzig Lieder, die ein ziemlich umfassendes Portrait seines musikalischen Schaffens der letzten dreißig Jahre ergeben.

Dazu unterhält er das Publikum mit seinem trockenen Humor, erzählt Geschichten aus seinem Leben, äußert sich zu politischen Themen und verneigt sich vor den Großen seiner Zunft. Zu seinen persönlichen Helden zählt der amerikanische Folksänger Woody Guthrie, wie Bragg ein überzeugter Sozialist. Anlässlich der Wiederveröffentlichung der gemeinsam mit Wilco aufgenommenen Mermaid Avenue-Alben spielt er das grandiose Way Over Yonder In A Minor Key, eine zärtliche Erinnerung an die Kindheit.

Direkt politisch ist hingegen Woody Guthries I Ain't Got No Home In This World Anymore, ein Lied über Armut und Obdachlosigkeit im Dust Bowl der 1930er und sein die Nazis herausforderndes All You Facists Are Bound To Lose aus dem Jahre 1944. Another Man's Done Gone, sein eigenes Lied aus den Sessions mit Wilco, benutzt er hingegen, um den zu früh verstorbenen Jay Bennett und dessen Talent als Arrangeur und Musiker zu würdigen.

Bei allen ernsten Momenten kommt Braggs Humor nicht zu kurz. So erzählt er, wie er an einem Donnerstag in Berlin aufwachte und alle Geschäfte geschlossen vorfand. Es sei Christi Himmelfahrt und gleichzeitig Vatertag, eine Gelegenheit für Männer, gemeinsam auszugehen und sich zu betrinken. In England gäbe es auch einen solchen Tag, erklärt Bragg, er heiße Samstag.

Billy Braggs politischer Aktivismus wird durch seinen Klassiker There Is Power In A Union, das spöttische Waiting For The Great Leap Forward und sein Anti-Zynismus-Lied Tomorrow's Going To Be A Better Day repräsentiert. Besonders bemerkenswert ist das gegen die Machenschaften von Rupert Murdochs Massenblatt The Sun gerichtete Scousers Never Buy The Sun, das an die verabscheuungswürdige Kampagne der Zeitung gegen die Fans des FC Liverpool im Anschluss an das Hillsborough Disaster erinnert. Bis zum heutigen Tag verkauft The Sun in Liverpool, Heimat der Scousers, kaum Exemplare.

Die Revolution mag nur ein T-Shirt entfernt sein, aber zu Hause ist Billy Bragg auch Ehemann und Vater eines Sohns, der selbst Musik macht, ihm aber nicht erlaubt, die Konzerte seiner Band zu besuchen. "Hat dein Vater deine Auftritte besucht?", fragte Jack seinen Vater. "Nein, aber er hat auch nicht meinen Verstärker benutzt", entgegnete Billy.

Als sein Sohn wieder mal seine Gitarre im Elternhaus maximal laut spielte, schickte seine Ehefrau Billy, um ihn dazu zu bringen, die Lautstärke zu drosseln. Als er schon vor dem Zimmer stand, erkannte er das Lied, das sein Sohn spielte: Es war Milkman Of Human Kindness.

So ähneln die Geschichten des Billy Bragg seinen Liedern. Sie sind pointiert, aufrichtig, engagiert – und erinnern, wie Bragg selbst feststellt, manchmal an die Worte eines Predigers. Dass sein Konzert in der Wiesbadener Ringkirche stattfindet, erscheint daher durchaus passend, zumal das Gebäude über eine sensationelle Akustik verfügt, die Braggs Gitarre und Stimme glasklar transportiert.

Zum Abschluss fordert Billy Bragg das Publikum auf, für A New England aufzustehen und den Refrain mitzusingen. In der Kirche erklingt so ein etwas anderer Choral, der den sozialistischen Gottesdienst würdevoll beendet. Das Publikum bejubelt ein letztes Mal den großen britischen Songwriter, der sich an diesem Abend von seiner besten Seite zeigt.

Setlist

The World Turned Upside Down | Red To Blue | Greetings To The New Brunette | Tomorrow's Going To Be A Better Day | Way Over Yonder In The Minor Key | Another Man's Done Gone | I Ain't Got No Home In This World Anymore | All You Facists Are Bound To Lose | The Space Race Is Over | Tender Comrade | The Saturday Boy | Scousers Never Buy The Sun | Must I Paint You A Picture | Brickbat | Milkman Of Human Kindness | There Is Power In A Union | Waiting For The Great Leap Forward 

Zugabe: Tank Park Salute | I Keep Faith | A New England

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