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Ein Pressefoto von My Bloody Valentine zur Zeit von "Isn't Anything". © My Bloody Valentine

My Bloody Valentine zählen zu den wenigen Bands, denen es gelingt, etwas wirklich Neues hervorzubringen. Obwohl ihre stilprägenden Veröffentlichungen schon mehr als 20 Jahre zurückliegen, verdeutlichen die kürzlich erschienenen Reissues ihrer Aufnahmen für das englische Creation-Label ihren anhaltenden Einfluss auf die Musik der Gegenwart. Mit ihrer Musik begründeten sie nicht nur das Genre des Shoegazing, sondern beeinflussten auch die Entwicklung des Indie-Rocks der folgenden Jahrzehnte auf beiden Seiten des Atlantik.

Um wenige Bands ranken sich so viele Mythen wie um My Bloody Valentine. Besonders legendär ist der Perfektionismus von Kevin Shields, der gestalterischen Kraft der Band. Als My Bloody Valentine 1988 bei Alan McGees legendärem Label Creation Records unterschrieben, ahnte freilich noch niemand, am wenigsten McGee selbst, dass diese Band ihn und sein Label fast in den Abgrund reißen und gleichzeitig die beste und einflussreichste Musik der späten 1980er und frühen 1990er Jahre produzieren würde.

Die inzwischen allseits als Meisterwerke gefeierten Aufnahmen von My Bloody Valentine für Creation Records sind kürzlich in neuen Versionen erschienen. Zusammen bilden die beiden Alben "Isn't Anything" (1988), "Loveless" (2 CDs, 1991) und die "EPs 1988-1991" (2 CDs) das zentrale Werk der Band. EPs 1988-1991 enthält neben den "You Made Me Realise", "Feed Me With Your Kiss", "Glider" und "Tremolo"-EPs zwei Instrumentalstücke, die auf einer der Vinyl-Version von "Isn't Anything" beigelegten 7''-Single enthalten waren. Daneben finden sich zwei B-Seiten und drei unveröffentlichte Stücke. Erfreulich ist, dass das Artwork der jeweiligen EPs reproduziert wurde. Weder "Isn't Anything" noch "Loveless" enthalten Bonus-Tracks, sondern wurden lediglich neu in Cardboard-Hüllen verpackt.

Von Dublin nach London

Die Geschichte von My Bloody Valentine reicht zurück in das Jahr 1983, als die zwei Jugendfreunde Kevin Shields und Colm Ó Cíosóig gemeinsam mit zwei anderen Musikern die Band in Dublin, Irland ins Leben riefen. Mit den späteren Veröffentlichungen hat die unbedeutende Musik in dieser Zeit wenig gemein, interessant wird die Story erst im Jahr 1987.

In diesem Jahr geschehen zwei Entwicklungen parallel: Zunächst bildet sich nach verschiedenen Umbesetzungen das klassische Line-Up von My Bloody Valentine, das mit Unterbrechungen bis heute unverändert ist. Es besteht aus Kevin Shields (Gesang, Gitarren, Keyboards), Colm Ó Cíosóig (Schlagzeug), Debbie Googe (Bass) und Bilinda Butcher (Gesang, Gitarren).

Von Lazy zu Creation

Außerdem veröffentlichen My Bloody Valentine (noch in unterschiedlichen Besetzungen) drei EPs ("Sunny Sundae Smile", "Strawberry Wine", "Ecstasy") auf dem von der Band The Primitives gegründeten, längst entschlafenen Indie-Label Lazy. Reissues dieser Aufnahmen wären höchst willkommen, da sie seit Jahrzehnten nicht auf Tonträgern erhältlich sind und absurde Preise erzielen.

Auch wenn die drei EPs nicht an die späteren Meisterwerke heranreichen, so sind sie doch der erste Ausdruck für das bis dahin kaum realisierte künstlerische Potential von My Bloody Valentine. Der Wechsel zum weitaus größeren Indie-Label Creation, das Bands wie Felt oder Primal Scream unter Vertrag hat, beschleunigt ihre rapide musikalische Evolution. Creation ermöglicht es der Band, ihre Musik in besseren Studios unter professionellen Bedingungen aufzunehmen.

You Made Me Realise: Die Geburtsstunde eines neuen Sounds

Ihre erste Veröffentlichung für Creation, die "You Made Me Realize"-EP, erscheint im Sommer 1988 und besticht durch ihre konzeptuelle Geschlossenheit. Der körperlose, ungreifbare Gesang von Bilinda Butcher bzw. ihres etwas handfesteren Pendants, Kevin Shields, verbinden sich mit den gewaltigen Gitarrenwänden zu einem Werk von kühler, entrückter Schönheit.

In einem Interview hat Kevin Shields kürzlich Schlafmangel (und nicht etwa Drogen) für den unverwechselbaren Klang der Musik verantwortlich gemacht. Zwei Jahre lang hätten Colm Ó Cíosóig und er sich einen Wettkampf geliefert, wer länger wach bleiben könnte. Viele Aufnahmen seien nach Wachphasen von 24 Stunden entstanden, wodurch sich beide in einem "leicht manischen, übermüdeten" Zustand befunden hätten. Auf diese Weise sei Unterbewusstes in die reale Welt gelangt.

Diese Aussagen lassen den Begriff "Dream Pop" für die Musik von My Bloody Valentine angemessen erscheinen. Dennoch ist Zurückhaltung angebracht, denn die Band war so viel mehr als eine "reine" Dream Pop-Band. "You Made Me Realise", das Titelstück der EP, ist gleichzeitig der am wenigsten verträumte Track: Durch den prominenten Bass und das manische Schlagzeugspiel wirkt das Lied trotz Gesang und Gitarren fast wie ein konventioneller Indie-Rocksong. "Thorn" und "Drive It All Over Me" zählen hingegen zu den poppigsten, melodischsten Songs im Katalog der Band. Nur das fast schwebende "Cigarette In Your Bed" wirkt tatsächlich verträumt.

Isn't Anything: Expansion und Release

In ihrer Gesamtwirkung repräsentiert die "You Made Me Realise"-EP die Geburtsstunde eines neuen Sounds, der auf dem kurz darauf veröffentlichten Album Isn't Anything verfeinert und vervollständigt wurde. Auf dem eröffnenden "Soft As Snow (But Warm Inside)" summen die verzerrten Gitarren wie Killerbienen, während das zweite Lied "Lose My Breath" die Band von ihrer warmen, somnambulen Seite zeigt. Damit sind die beiden Extreme des Klangs beschrieben, innerhalb derer sich die Musik der Band von jetzt an entfalten sollte: Avantgarde-Noise und traumhafte Pop-Melodien.

Es ist leicht, sich in dieser zwischen verschiedenen Klangwelten pendelnden Musik zu verlieren. Die überbelichteten Fotos des Artworks illustrieren perfekt die strahlenden Klangflächen der Musik, die kaum erkennbare Konturen aus einem Kontinuum aus Musik hervortreten und wieder verschwinden lassen. So oft man "Isn't Anything" auch hört, seinem intensiven Sog kann man sich nie entziehen.

Mit "Isn't Anything" begründeten My Bloody Valentine das Genre des Shoegazing, so genannt wegen der in sich versunkenen, nach unten, auf die Schuhe blickenden Haltung vieler Shoegaze-Bands während ihrer Konzerte. Inwiefern man My Bloody Valentine mit dieser Bezeichnung gerecht wird, ist umstritten. Allerdings haben nur wenige Bands die Avantgarde-Tendenzen von My Bloody Valentine aufgegriffen und sich stattdessen auf die Dream Pop-Elemente konzentriert, die viel einfacher zu reproduzieren sind.

Fast gleichzeitig zu Isn't Anything erschien die zweite Creation-EP "Feed Me With Your Kiss". Neben dem auch auf dem Album vertretenen Titelstück wirken die restlichen Tracks wie eine Sammlung von Outtakes der Albumsessions, allerdings auf hohem Niveau.

Nach drei Veröffentlichungen innerhalb eines halben Jahres legen My Bloody Valentine keine Pause ein, sondern beginnen bereits im Februar 1989 mit der Arbeit am Nachfolger von "Isn't Anything". In den drei Jahren, die bis zur Veröffentlichung vergehen sollten, veränderte sich die Welt grundlegend.

Wertungen:

You Made Me Realise-EP (auf der 2 CD-Compilation EP's 1988-1991): ++++½ (von +++++)

Isn't Anything: ++++½ (von +++++)

Feed Me With Your Kiss-EP (auf der 2 CD-Compilation EP's 1988-1991): ++++(von +++++)

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