Ian Anderson mit dem Instrument seiner Wahl.

Ian Anderson mit dem Instrument seiner Wahl. © Ian Anderson

Es gehört schon eine Menge Mut und eine gehörige Portion Wahnsinn dazu, sich nach vierzig Jahren an die Fortsetzung eines genredefinierenden Albums zu wagen. Ian Anderson, der Leadsänger der englischen Prog-Rock-Band Jethro Tull, hat genau das getan und den zweiten Teil des Jethro Tull-Klassikers "Thick As A Brick" veröffentlicht. Das Ergebnis ist ein überraschend lebendiges Werk im musikalischen Stil der frühen 1970er.

{image}Jethro Tulls Prog-Rock Meisterwerk Thick As A Brick aus dem Jahre 1972 ist nichts anderes als ein elaborierter Witz – das behauptet jedenfalls Sänger und Flötist Ian Anderson. Aus Verärgerung darüber, dass Kritiker den 1971 erschienenen Vorgänger Aqualung als Konzeptalbum bezeichneten, habe er sich entschlossen, im Gegenzug die "Mutter aller Konzeptalben" zu schaffen und gleichzeitig das Ergebnis absurd zu überzeichnen. Das Ergebnis war Thick As A Brick, fraglos ein Klassiker des Prog-Rocks der 1970er Jahre. Das Album bestand aus einer einzigen Komposition auf zwei Seiten einer Langspielplatte, die in einer nachgemachten Zeitung verpackt war. Als offensichtliche Satire englischer Provinzzeitungen trug sie den Titel "St. Cleve Chronicle & Lindwell Advertiser".

{image}Die Lyrics von Thick As Brick stammten angeblich von Gerold Bostock, einem achtjährigen Jungen, der aufgrund seiner Dichtkunst bereits als "Little Milton" bezeichnet wurde, aber einen ihm zuerkannten Preis verlor, weil er bei einem Auftritt in der BBC ein "verbotenes" Wort benutzt habe. Musikalisch ist Thick Is A Brick eine überlange Komposition mit wechselnden Tempi, epischen Instrumentalpassagen, kürzeren Improvisationen, Duetten zwischen Instrumenten und zahlreichen wiederkehrenden Motiven, die von Ian Andersons absichtlich prätentiösen Texten durchzogen werden. Das Album wurde ein Riesenerfolg und ermöglichte Ian Anderson den gleichen Trick nochmal auf A Passion Play zu versuchen – freilich mit verheerendem Ergebnis.

Genau vierzig Jahre später hat sich Ian Anderson entschlossen, auf Thick As A Brick 2 den zweiten Teil der Geschichte zu erzählen. Aus dem St. Cleve Chronicle ist inzwischen www.stcleve.com geworden und aus Jethro Tull nach dem offensichtlich endgültigen Zerwürfnis mit Gittarist Martin Barre ein Ian Anderson-Soloalbum unter dem etwas peinlichen Moniker Jethro Tull’s Ian Anderson. Danke für den Hinweis.

Für den Mix des Albums zeichnet übrigens Steven Wilson (Porcupine Tree, Blackfield) verantwortlich, der im letzten Jahr eine herausragende Neuabmischung des 1971er-Jethro-Tull-Klassikers Aqualung vorgelegt hat.

{image}TAAB2 gibt vor, fünf mögliche Lebenswege von Gerold Bostock nachzuerzählen. In kurzen Episoden wird Gerald nacheinander als Banker, Obdachloser, Soldat, Priester und als "ein ganz gewöhnlicher Mann" gezeichnet. Aber Moment – Gerold Bostock existierte nur in Ian Andersons Phantasie. Wessen Lebensgeschichte wird hier also erzählt? Die "What-ifs, Maybes and Might-have-beens", die Anderson nachzeichnet, sind daher nur in einem allgemeinen Sinn zu verstehen. Thick As A Brick 2 betrachtet mit durchweg kritischem Blick fünf Schicksale und Lebenswege, die mit ihren Wendungen, Sackgassen, Höhen und Tiefen bemerkenswert glaubhaft wirken. Anderson wäre aber nicht Anderson, wenn er nicht die Chance zur ironischen Überzeichnung nutzen würde.

Der herausragende Song des Albums ist Banker Bets, Banker Wins. Dass die lyrische Auseinandersetzung mit der Bankenkrise etwas flach gerät, fällt angesichts der leidenschaftlichen, vorwärtsdrängenden Performance nicht sonderlich ins Gewicht. Aber von diesem Augenblick an ist eindeutig, dass TAAB 2 musikalisch und thematisch nicht nur an Thick As A Brick, sondern generell an den Jethro-Tull-Sound der frühen 1970er anknüpft. So bildet Aqualung einen häufigen Bezugspunkt, beispielsweise in den Themen Religion und Obdachlosigkeit, aber auch in direkten Zitaten und der generellen, bissigen Attitüde des Werks.

Trotz aller Tempowechsel erhält man stets den Eindruck, dass es sich bei TAAB2 um das Werk einer gemeinsam spielenden Band handelt. Ian Andersons charakteristische Flöte bildet ein wichtiges Element des Klangs, der auf sympathische Weise altmodisch wirkt. Die Band spielt gradlinig und gekonnt, so dass die einzelnen Abschnitte nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern ineinander fließen.

{image}Wiederholt stellt TAAB2 aber auch direkte musikalische Bezüge zum Vorgänger her, beispielsweise greift das unglücklich bezeichnete Pebbles Instrumental eines der einprägsamsten Motive des Originals auf. Die Stakkato-Passagen des Instrumentals erinnern ebenfalls an ein auf Thick As A Brick häufig eingesetztes Stilmittel. Und wenn ganz zum Schluss die berühmten Zeilen aus Thick As Brick zitiert werden, dürfte manchem langjährigen Fan die Tränen in die Augen gestiegen sein.

Es gibt aber auch Unterschiede zwischen Klassiker und Fortsetzung: Der in Rosenheim geborene Gitarrist Florian Opahle drängt sich mit seinen manchmal etwas zu aufdringlichen Hardrock-Gitarrensoli gelegentlich zu sehr in den Mittelpunkt, schafft es aber meistens, Andersons Flötenspiel gut zu ergänzen. Ian Anderson Stimme hat in all den Jahren viel gelitten, wirkt gelegentlich dünn, aber gerade in den leidenschaftlicheren Momenten überraschend ausdrucksstark. Moderne Studiotechnik hat da sicherlich geholfen.

Im Gegensatz zu Thick As A Brick ist TAAB2 ein Album, das umso interessanter wird, je mehr man sich damit beschäftigt. Ian Anderson ist es gelungen, fünf Lebensgeschichten elegant zu verweben und daraus ein eingängiges Werk zu formen. Wer mit manchen etwas allzu prätentiösen Momenten leben kann, dem bietet TAAB2 viel erfreulich lebendige musikalische Nostalgie.

Wertung: +++1/2 (von +++++)

PS: In Kürze geht Ian Anderson mit Band auf Deutschlandtour und will in deren Verlauf sowohl Thick As A Brick als auch den Nachfolger in voller Länge spielen.

Ian Anderson Deutschlandtour 2012

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