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The Rolling Stones 1978 © Universal Music

Für die Fans der Rolling Stones fängt das Fest dieses Jahr bereits im November an. Nicht nur, dass die Stones nach "Exile On Main Street" jetzt auch "Some Girls" als Deluxe-2-CD-Ausgabe mit unveröffentlichten Tracks veröffentlichen – nein, parallel erscheint ein Live-Video/Live-Album von der herausragenden "Some Girls"-Tour 1978 und zusätzlich als Download auch noch das Brüssel-Konzert von 1973, das seit vielen Jahren als eine ihrer besten Liveaufnahmen gilt.

Mit dem Reissue von Exile On Main Street öffneten die Rolling Stones den Giftschrank: Erstmals wurden von der Band selbst Outtakes veröffentlicht, die nicht auf dem regulären Album landeten. Some Girls von 1978 ist nun das zweite Album, das diese Aufarbeitung erfährt. Viele dieser Tracks, die jetzt offiziell das Licht der Öffentlichkeit erblicken, waren zuvor schon auf Bootlegs veröffentlicht worden, aber noch nie in einem so guten Sound verfügbar. Was zum einen darin liegt, dass hier die Original-Masterbänder verwendet wurden, aber zum andern auch mit der Nachbehandlung zu tun hat, die den Tracks zuteil wurde. Zu den Sessions aus den Jahren 1977 und 1978, die die Grundlage für das Some Girls-Album bildeten muss man sagen, dass die Band zu diesem Zeitpunkt – nach der überstandenen Heroin-Abhängigkeit von Keith Richards aber der noch währenden Unsicherheit, ob er vielleicht wegen Drogenbesitz in Kanada noch eine Verurteilung zu befürchten hatte – einfach alles auf Band brachte, was an eigenen Songideen oder Coversongs gerade verfügbar war. Es war unklar, ob eine etwaige Haftstrafe ihres Hauptgitarristen und Songwriters die Band auf Jahre hinweg lähmen würde. So wurde Material produziert, das für mehrere Alben reichte und selbst dann, als klar war, dass Keith nicht ins Gefängnis musste, noch bis ins Jahr 1994 hinein als eine Basis diente, aus der sich die Band bediente. Die beiden folgenden Alben (Emotional Rescue und Tattoo You) beinhalten Songs aus diesen Sessions. Als Single-B-Seiten wurden auch darüber hinaus noch Aufnahmen aus dieser Zeit immer wieder gern genommen – bis hin zu der Single Love is strong vom 94er Album Voodoo Lounge, die den Song So Young, der auch auf der zweiten CD des Reissues enthalten ist, als Flipside hatte.

Was deutlich wird, wenn man die Bonus-Tracks anhört: die Band war in diesen Jahren genauso tief in ihren Roots verankert, wie immer – aber auf Some Girls wurden in erster Linie Songs genommen, die die Band in einem zeitgeistigen Kontext zeigte. Ob dies nun Disco-Einflüsse waren, wie im Falle der Hit-Single Miss You, oder der offensichtliche Einfluss von Punk (auf fast allen andern Tracks), der die Band roher spielen lies, als auf den letzten Platten seit Exile. Die Songs, die jetzt ausgegraben wurden, sind dagegen auch Blues, Country und Pop – all jene Elemente, die auf dem regulären Album nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle gespielt haben. Darunter sind zwei tolle Covers, Hank Williams' You Win Again und Waylon Jennings' We Had It All, das Keith Richards so herzzerreißend singt, dass man glauben könnte, er habe diese Zeilen an seine Langzeitfreundin Anita Pallenberg geschrieben, von der er sich damals gerade trennte. Auch das vorab schon veröffentlichte No Spare Parts atmet Country-Stimmung mit Ronnie Wood an der Pedal Steel Guitar und setzt sich nach einigen Hördurchgängen als ein resistenter Ohrwurm fest.

Ansonsten gibt es mit Don’t Be A Stranger auch eine Rhumba zu hören, der in der Songauswahl wie ein Fremdkörper wirkt. Mit Claudine, Tallahassee Lassie und So Young sind aber auch erstklassige Rocker auf der Bonus-CD, die für sich genommen auch ein mehr als passables Stonesalbum abgegeben hätte. Den Abschluss bildet der dylaneske Petrol Blues, bei dem Mick Jagger am Piano einen surrealen Trip durch die USA der 70er unternimmt. Zum regulären Some Girls-Album ist eigentlich schon alles gesagt worden, diese Edition basiert auf dem 2009er Remaster, das sehr druckvoll daher kommt. Gleich der Opener Miss You scheint dem Zuhörer beinahe ins Gesicht zu springen. Die altbekannten Nummern kommen mit einer Menge Power daher, was allerdings mit einem Verlust an Dynamik einher geht. Viele Stones-Fans halten aus diesem Grunde die Virgin-Remaster aus den 90er Jahren für die bessere Wahl, wenn es um Hi-Fidelity geht. Wer etwas tiefer in die Tasche greifen möchte, kann zu der Super Deluxe Edition greifen, die außerdem noch eine DVD, die 7" Beast Of Burden und ein großes Fotobuch enthält.

Wertung "Some Girls Deluxe Edition": ++++1/2

Parallel dazu wurde ein Schatz, von dessen Existenz bislang wohl nur wenige wussten, ausgegraben: Die Rede ist von den Film- und Tonaufnahmen, die am 18. Juli 1978 im Will Rogers Auditorium in Fort Worth/Texas gemacht wurden. Der Grund, warum diese Filmaufnahmen nicht sofort als Konzertfilm und später als Video veröffentlicht wurden, liegt darin, dass die Aufnahmen von "Showco" – dem texanischen Bühnentechnik-Unternehmen, das die Tour ausstattete – und nicht etwa von der Band oder der Plattenfirma gemacht wurden. Für "Showco" war die Show in der 3000-Zuschauer-Arena eine Art intimes Heimspiel, das man für eigene Promozwecke filmen wollte. Und jetzt, 33 Jahre später, sieht man diese Filmaufnahmen, die den bislang schlichtweg besten Konzertfilm aus den ersten 20 Jahren der Band ergeben. Sowohl was die Qualität der Bilder als auch den Sound betrifft wurde hier erstklassige Arbeit geleistet. Was aber alles nichts nützen wurde, wenn die Band nicht gut gespielt hätte.

Und in diesem Punkt stellt man fest, dass The Rolling Stones an diesem Abend fantastisch gespielt haben. Noch ohne Backgroundsänger – die Chöre wurden von Keith und Ronnie in aller ungestümen Wildheit beigesteuert, wenn sie sich rechtzeitig genug an dem einen (!) Mikro, das dafür zur Verfügung stand, einfanden. Obwohl mit Ian Stewart und Ian McLagen zwei Tastenmänner die Band unterstützten, ist der Sound noch voll von den Gitarren getragen. Und wenn man sich anschaut, wie präzise Richards und Wood damals noch in jeder Sekunde die Songs getragen haben, merkt man doch, dass die Band auf ihren letzten Touren gealtert ist. Auch die Bedeutung von Bill Wyman für den speziellen Sound der Stones ist auf diesen Aufnahmen sehr klar zu hören. Mit seinem Abgang hat die Band einen wichtigen Faktor ihrer Magie verloren. An diesem Abend war jedenfalls noch alles so, wie es sein soll. Die Verve und Präzision und trotzdem Nonchalance mit der die Stones insbesondere die neuen Songs spielten, ist schlichtweg atemberaubend. Dass bei der beherzten Version von Miss You die Gitarren nicht ganz sauber gestimmt zu sein scheinen ist somit zu vernachlässigen. Diese DVD bzw. BluRay schießt von Null an die Spitze der Liste der Konzertaufnahmen, die geeignet wären einem Außerirdischen die Power und Magie des Rock’n’Roll nahe zu bringen.

Wertung "Some Girls – Live In Texas ’78 (DVD/CD)": +++++ 

Last but not least kam zu dieser Veröffentlichungs-Arie auch noch ein weiterer Tupfer, der ein ganz neues Fass aufmacht: Über die neue Webseite stonesarchive.com veröffentlichten The Rolling Stones die offizielle Version eines ihrer besten Bootlegs: Brussles Affair. Unter diesem Titel wurde eine Compilation von Radiokonzert-Mitschnitten aus London und Brüssel von der 1973er Europatournee von Swingin' Pig und anderen legendären Bootleg-Labels vertrieben. Jetzt gibt es in der offiziellen Version das komplette Abend-Konzert aus Brüssel (damals spielte die Band noch des Öfteren zwei Shows am gleichen Tag: eine am Nachmittag, eine am Abend) in einer besseren Soundqualität als bislang gehört. Was die musikalische Performance betrifft, gibt es auch hier nichts zu meckern.

Im Gegenteil – unter Stonesfans gelten die Mitschnitte oft als der Höhepunkt in der an Höhepunkten nicht armen Live-Historie der Band. Die 1973er Tournee war die letzte mit Mick Taylor, der hier sein melodieintensives Spiel auf die Spitze trieb. Keith übernahm zu fast 100% die Rhythmusgitarre und Taylor legte seine unnachahmlichen Melodien dann darüber. So klangen die Stones nie wieder. Das aktuelle Album Goats Heads Soup war mit 4 Songs stark im Set präsent. Die Ballade Angie wurde komplett elektrisch gespielt, was dem Song eine ganz andere Note als auf der Studioaufnahme gibt. Midnight Rambler hatte eine Rekordlänge und das Finale mit Rip This Joint, Jumpin‘ Jack Flash und Street Fighting Man wurde nie schneller gespielt. Man merkt, dass die Kapelle damals an beiden Enden der Kerze gebrannt hat. Rock’n’Roll-Madness! "Herr Ober, ich hätte auch gern etwas davon, was die Herren da auf der Bühne hatten. Oder besser: Doch nicht!"

Wertung "Brussles Affair": +++++