Das Drumherum beim Melt! 2011

Das Drumherum beim Melt! 2011 © René Peschel

Auf der Hinfahrt verbreitete das Radio schlechte Stimmung: "Über das Wetter am Sonntag möchte ich lieber nicht reden, aber Gummistiefel und Regenjacke hat man ja eigentlich bei jedem Festival dabei". Der Freitag wurde beim Melt! aber trotz des bösen Omens vor allem ein Tag der Überraschungen. Viele Bands spielten ganz anders - und besser - als auf Platte. Nichts für Puristen, aber alles für Musikliebhaber.

{image}Eröffnet wird das Melt!, so wie es bereits Tradition ist, von Markus Kavka. Der DJ, der nebenher noch für einen kleinen, aber jetzt vollkommen unwichtigen Musiksender tätig war und auch Autor mehrerer Bücher ist (sein letzter Roman Rottenegg erschien im März), spielte vor einer für den Festivalbeginn schon recht großen Masse. Das Set ist entspannt, die Menge ausgelassen – man bereitete sich auf das Kommende vor. Weiter geht es für regioactive.de mit We Have Band. Das Trio, bestehend aus Tom und Dede WP sowie Darren Bancroft aus London, wirkt auf Platte rotzig, der Gesang sogar teilweise genervt. Live zeichnet sich ein anderes Bild ab, die Band verwandelt sich in ein Energiebündel. You came out wird von Dede mit Elan gesungen, aus Oh!, dem Indiedisco-Hit der Band, wird plötzlich auch ein richtiger Song, den nicht nur Leute in seltsamen 80er-Klamotten hören wollen. Die Ansage: "If you want to dance, now it's time", kann man schlussendlich nur bejahen. Dass die Band dabei ihre Instrumente mehr verprügelt als spielt, macht es noch angenehmer.

-> Den Überblick über das Melt! 2011 findet Ihr hier

{image}Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, manchmal aber auch ein Scheitern. Ein Lied davon können wohl The Sound of Arrows singen, die auf der Gemini Stage ihr Glück versuchen. Was bei den Schweden aber bereits auf Platte wie der schlechte Teil der 90er Jahre klingt, wird live nicht besser. Billige Stampfbeats, die sich auch in der nächsten Dorfdisco wohlfühlen würden, dünner Gesang und Texte, die den Boden aufwischen wollen, sind leider doch kein Hitgarant. Hinzu kommt eine extreme Einfallslosigkeit auf der Bühne, die sich in ungelenken Bewegungen des Sängers und gekünstelten Ansagen ausdrückt. Schnell weg! Everything Everything versprechen Besserung. Als das Quartett in grauen Hausmeisteruniformen mit blauen Schulterstücken auf die Bühne kommt und die ersten Töne spielt, hat es bereits gewonnen. Das aktuelle Album der Briten heißt Man Alive, die Ansage passt zum Auftritt: Auf der Bühne geben die Vier alles, auch wenn der ständige Wechsel zwischen hohem und tiefem Gesang, so etwas wie das Markenzeichen der Gruppe, nicht gerade unanstrengend wirkt. Dazu kommt ein guter Mix aus R&B und einer gehörigen Portion Gitarrenarbeit, was die Sache komplettiert. Dem Publikum gefällt's auch und so bekommt Gitarrist Alex Robertshaw, der an diesem Tag Geburtstag hat, eine schöne Party geschmissen.

{image}Gut, dass The Sound of Arrows überwunden sind, denn jetzt kommt das erste Highlight des Tages: Swans! Kenner mögen sagen, wenn jemand 2011 nicht so richtig ins Line-Up passt, dann diese Band. So denken wohl auch viele Besucher, denn zu Beginn des Konzerts steht fast niemand vor der Bühne. So richtig ändern wird sich das auch nicht mehr. Darauf muss reagiert werden. Swans, die man sehr grob dem Postrock zuordnen kann, tun dies mit einer Spielwut, die nur von der Lässigkeit oder Arroganz der Bandmitglieder übertroffen wird. Wenn Kristof Hahn vor Konzertbeginn minutenlang an der Hawaii-Guitar steht und verächtlich ins Publikum schaut, während er raucht, oder Frontmann Michael Gira später so tut, als würde er singen und zwischendurch in Richtung Publikum spuckt, kann man das großartig finden. Oder verrückt. Musikalisch geht es auf jeden Fall heiß her.

Der gesamte Auftritt wirkt wie eine ewig lange Jamsession, nur unterbrochen durch kurze Ansagen: "Thank you, new-wave electro-pop aficionados!" Dass dabei in einer Stunde nur vier oder fünf Songs durchgebracht werden, gehört wohl zum Konzept. Aber wen interessieren reine Zahlen, die Musik steht im Mittelpunkt. Und wenn Michael Gira bei No Words/No Thoughts laut und rotzig "to think is a sin!" schreit, verlieren alle Zahlenspielereien ihren Sinn. Handwerklich befinden sich Swans auf einer Höhe, die unglaublich ist, sogar das Glockenspiel vom Hüne Thor Harris wirkt mehr wie Zauberei als Spiel. Dass Michael Gira dazwischen über die Bühne rennt und mit den Armen rudert und Wellen schlägt, darauf leichtfüßig flattert, nur um sich schließlich selbst ins Gesicht zu schlagen, holt aus der ganzen Show das Essenzielle heraus: Swans sind fünf Größenwahnsinnige unter einem Aufseher, denen irgendjemand einmal Musikinstrumente gegeben hat. Man darf sie ihnen aber niemals wegnehmen.

{image}Jetzt ist erst einmal Entspannung nötig: Nicolas Jaar. Space Is Only Noise, das erste Album des Amerikaners, erschien Anfang 2011 und gibt sich größtenteils elektronisch ruhig, gespickt mit vielen kleinen Störgeräuschen. Hier und da hört man zwar Anleihen aus Weltmusik, Pop und Jazz heraus, im Grunde bleibt Jaars Musik aber immer entspannt. Jedenfalls auf Platte, denn live steht da plötzlich ein Schlagzeug, ein Saxofonist und ein Gitarrist neben Jaar, der sich selbst hinter Laptop und Keyboard vergraben hat. Die Musik dieser Gruppe hallt lauter und zu einem gewissen Grade fröhlicher über den Gremminer See und öffnet sich dem Zuschauer dadurch weitaus mehr als sein kleiner Bruder aus dem Presswerk. Dass sich der Auftritt dank Soundproblemen zuvor lange verzögerte und sich eine riesige Menschenmenge vor der abfallenden Bühne am Ufer zusammenquetscht, ist dann auch egal. Viel verpassen kann man sowieso nicht, denn auch bei Fritz Kalkbrenner, der danach spielt, steht eine unbewegliche Masse. Stehen ist dabei wortwörtlich zu nehmen, denn richtige Tanzstimmung kommt bei vielen Besuchern nicht auf. Schade, denn der Berliner DJ, nebenberuflich Bruder von Paul Kalkbrenner, hat nicht nur ein tolles Set, sondern auch hübsche Pyroeffekte eingepackt.

{image}Ganz anders sieht es daraufhin bei Robyn aus. Als Fembots aus den Lautsprechern der Hauptbühne kommt, beginnt ein Auftritt, der sich gewaschen hat. Irgendjemand sollte der Schwedin aber mal stecken, dass Leggins in Schlangenlederoptik mit Bomberjacke und monströser Sonnenbrille selbst für eine Popkünstlerin grenzwertig sind. 2004 wandte sich Robyn von der Chartmusik ab und widmete sich dem Electro-Pop. Seitdem wird sie von der Indiegemeinde abgefeiert und hat sich zur Britney der oben genannten "new-wave electro-pop aficionados" gemausert. Einige alte Tugenden hat sie sich aber erhalten, tanzt deshalb wie eine Verrückte auf der Bühne und stachelt das Publikum immer wieder neu an. Dass Songs wie Dancing On My Own, Indestructable und schließlich ganz zum Schluss With Every Heartbeat nicht fehlen dürfen, muss kaum gesagt werden. Dass das Gehüpfe bei letzterem dann seinen Tribut verlangt und Robyn mit Text und Tonhöhe zu kämpfen hat, macht den Auftritt hingegen sehr sympathisch.

{image}Stillstand ist der Tod und so geht es nach dem Ausflug in die Popwelt direkt weiter: Das Intro Zelt ruft. Hier feiert eines unserer liebsten Musikmagazine seinen 20. Geburtstag, wobei möglichst viele Gratulanten nicht fehlen dürfen. Das schönste Geschenk macht an diesem Freitag wohl der Singer/Songwriter Sam Beam, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Iron And Wine. Denn der Mann aus South California kommt zum Gratulieren nicht allein, sondern bringt gleich seine gesamte Posse mit. Und so drängen sich auf der kleinen Bühne schlussendlich neben Sam Beam zwei Sängerinnen, ein Bassist, ein Gitarrist und ein Saxofonist sowie ein Schlagzeuger, ein Percussionspieler und ein Orgel- beziehungsweise Keyboardspieler. Puh! Was die Kombo dann aus Stücken wie The Devil never Sleeps oder Lovesong of the Buzzard macht, würde jeder gerne an seinem Ehrentag hören. Sam Beam spielt allein bereits wunderbar, von der Band wird aber jedes Stück in ein Jazz- oder Rockgewand gesteckt, manchmal auch südamerikanisch oder mit einem Big Band-Touch. Nach den Originalen klingt das nie, aber wahrscheinlich vermisst das hier keiner: Für diesen Auftritt hätte man die Geburtstagssause eigentlich kurz auf die Hauptbühne verlegen sollen.

{image}Euphorisiert, ergriffen und mit neuer Kraft versorgt folgt schlussendlich für diesen Freitag Paul Kalkbrenner, der bereits auf seinem riesigen, trapezförmigen Thron auf der Hauptbühne seine Jünger zum Tanzen animiert. Irgendwann ist aber auch dieser Auftritt zu Ende, für Boys Noize reicht die Motivation leider nicht mehr. Soll aber sehr gut gewesen sein. Zum Schluss die Empfehlung von Bands, die das regioactive.de-Team nicht gesehen hat, die man sich aber unbedingt anhören sollte: Sizarr. Ohne große Umschweife verlinken wir daher einfach auf ein Video.

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