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Herbie Hancock (live in Heidelberg, 2010) © Hannes Mezger

Das Heidelberger Kongresshaus wartete am 18. November stumm und still auf den ersten Ton. Kein Platz steht leer. Auf der Empore stehen die Letzten in vierter Reihe, ohne Chance die ersten eineinhalb Stunden mehr als nur den Nacken des Vordermanns zu sehen. Keinem macht das was aus. Herbie Hancock tritt auf.

{image}Viele Fragen tanzen durch die gespannte Stille: Wird Herbie Hancock den großartigen Auftritt von vor zwei Jahren in der Stadthalle wiederholen können (→ Konzertbericht, 2008)? Wie fit kann ein mittlerweile 70-jähriger Herr auf der Bühne noch sein? Spielt er Lieder von seinem neuen Projekt The imagine project? Wann fängt das Konzert endlich an? Um es vorwegzunehmen: Ja, er wird den großartigen Auftritt wiederholen können, ein 70-jähriger Herr kann, wenn die Musik ihm die Frische einhaucht, fitter sein als ein blutjunges upcoming Starlet aus der Musikszene, ja er spielt auch Lieder von seinem neuen Projekt und das Konzert beginnt genau jetzt – nach einer letzten Frage. Was bedeutet es, wenn Musik zur Sprache wird?

{image}Trevor Lawrence Jr. (dr), James Genus (b), Lionel Loueke (g), Greg Phillinganes(keys), Herbie (p). Ohne Worte beiderseits beginnt das Spiel. Die übliche kleine musikalische Vorstellungsrunde. Jeder zeigt in einem kleinen Intervall des Stücks, dass er ein talentierter für den heutigen Abend unersetzbarer Teil der Kombination ist. Die Begrüßung des Publikums erfolgt also erstmal über die Akustik des Kongresshauses. Bei einer derartigen Begrüßung ist es auch völlig gleich, ob der bisherige Tag einigermaßen schlimm oder übermäßig schön war – man nimmt sehr gerne teil an einem Event dieser Kategorie. Guten Abend.

{image}Nach dem ersten Song lässt es sich Herbie allerdings doch nicht nehmen, seine Fähigkeiten als phantastischer Unterhalter preis zu geben. "Let´s start with something spiritual. With some energy. Somebody might be tired of this here." Keiner nimmt diesen Vorwurf ernst. Er selbst am wenigsten. Ein König des Timings. Er wartet. Wartet. Noch ein bisschen. Die Menschen lachen laut, er steigt ein, wird ernst: "You can´t get sleepy with this here!" Die Menschen lachen noch lauter, er bleibt dabei. Der angenehme Ton, indem der Grundstein für eine dreistündige Konversation gelegt wird, sollte durchgängig erhalten bleiben. Bald aggressiver, bald stiller, mal schneller, mal gemächlicher.

{image}Die Einführung in das Klanggespräch nimmt relativ viel Zeit in Anspruch, doch jedes Wort, das gesprochen wird, entlohnt den wartenden Jazzfan, der darauf bedacht ist, vor allem Musik zu hören. Wer versteht, dass es sich hier um ein und dasselbe handelt, wenn Herbie spricht oder spielt – nämlich das Zusammenarbeiten aller Individuen – wird nicht ungeduldig, sondern hört zu. Welches Medium auch immer, Schrift, Bild, Musik, Theater: entscheidend ist das Zusammenarbeiten. Das betont Herbie Hancock. Ein Thema von immenser Wichtigkeit, um etwas zu verändern. Unter diesem friedenstiftenden Stern steht das neue Projekt, für das Künstler wie Jeff Beck, Pink, India Arie, Seal, Chaka Khan und viele weitere hervorragende bekannte oder weniger bekannte Musiker ihren Beitrag leisteten. Er überträgt in diesem Prolog quasi den erstgespielten Track in direkter Art auf das Wort.

{image}Seine Band wird ein zweites Mal, begleitet von persönlichen Scherzen zu jedem einzelnen, vorgestellt. So wird der Drummer zum Oktopus und der Musical Director an den Keys zum Undercover-Sänger. Die Gäste finden sichtlichen Gefallen an der maßvollen humoristischen Weise Herbies die Show zu leiten. Ist ja nicht so, als würde er zum ersten Mal in seinem Leben auf der Bühne locker sein. Das wäre ein sehr dummer Gedanke. Wirklich sehr dumm. Die Konversation wirkt gänzlich natürlich. Die Leute spüren das. Natürlichkeit setzt sich in des Betrachters Gesicht fest in Form von entspannten Augen und offenen Ohren.

{image}Kristina Train (vocals) wird begrüßt. Es wird immer noch begrüßt. Richtig. Eine hübsche zierliche Gestalt stöckelt aus dem Schatten und winkt eher lustlos in die Menge. "She just came from Paris. Look at her. Fashion week, hm? You don't have to listen to her voice." Einzigartig. Charmant. Sehr Lustig. Nun etwas Musik. Imagine. Auf der Platte wirken Konono No 1 mit, die allerdings laut grinsendem Meister ihren Fieger nicht rechtzeitig erwischt haben und daher leider gerade unpässlich seien. Ein Glück, dass sie auf dem Hard Drive anwesend sind. Spannungsvolle Ruhe. Langes Intro. Atmende Stille. Kristina Train singt zum Vorteil der Audienz im Gegensatz zu ihrer Körperhaltung mit geöffnetem Organ und hellem Klang. Wie es sich an diesem Abend oft wiederfinden sollte, überwindet die Band die Kluft zwischen emotional ergreifenden Momenten und dem sprühenden Funk ohne dabei eine Irritation in der Reaktion des Publikums hervorzurufen, spielend. Clap. Imagine Funk. Lionel Loueke macht der Aufgabe Jeff Becks auf Platte alle Ehre. Das Stück wirkt wie ein neues Stück, bleibt dasselbe Stück, doch anders, verliert dabei nichts an Ursprünglichkeit. Die Zusammenarbeit funktioniert über den Dialog der Instrumente genreübergreifend. Beifall. Beifall. Beifall. Herbie, der die ganze Zeit im Wechsel mit vier Händen an Piano und Keyboard sich verausgabt hatte, setzt sich vor das Micro Korg. Als hätte er das Instrument gerade erst kennengelernt und beherrsche es ohne Verzug, testet er den Verzerrer und reizt das kindlich anmutige Spiel komplett aus. Schräge Töne ohne Halt erzeugen kollektiv gute Stimmung. Clap. Power Funk. Herbie lädt alle Instrumente auf: Trompetensynthies, Gitarrenklänge, er verwendet das Keyboard sogar als Drummachine. Was bedeutet es, wenn Musik zur Sprache wird?

{image}Der Kopf der Band schnappt sich das Umhängekeyboard und tänzelt über die Stage in Richtung James Genus. Ein sich gegenseitig steigernder Schlagabtausch zwischen den zwei Künstlern bricht aus. Im Wechsel spielen sie sich den andern nachahmend, sich unterhaltend, den Zuhörer unterhaltend, in einen Rausch. Es wirkt beinahe so, als würden sie sich Witze in Noten erzählen. Sie lachen dabei. Sie symphonieren. Sie synthetisieren. Sie verstehen. Der Zuhörer fühlt sich angesprochen, Menschen nicken schmunzelnd, schnippen mit den Fingern, tanzen im Sitzen und schieben des Nachbarn Schulter mit der eigenen an, um zu bewegen. Exitus. Ein weiteres Beispiel für die Unwichtigkeit der musikalischen Gattung eines Liedes, wenn die Melodie und der Text nur leidenschaftlich in eine andere Richtung überführt werden und mit hoher Achtsamkeit achtungsvoll behandelt werden. Songs stehen in einem neuen Kontext, das Konzept bleibt dasselbe. Der Zusammenschluss aller Einzeldisziplinen für die eine übergeordnete Disziplin. Das Bemühen des Einzelnen für das Wohl Aller. Funkbreak. Es folgt ein sphärischer, ruhiger Song. Und wieder wurde der Sprung zwischen brechendem Humor und eindringender Empfindsamkeit mühelos gemeistert.

{image}Die Köpfe der Stadthalle senken sich, etwas Geheimnisvolles breitet sich aus in langgezogenen Streichern, eine Ahnung schleicht sich in hohen Orgeltönen, die schnell verhallen, so dass das Geahnte zum Nichtwissen wird, was dieses Geheimnis bedeuten könnte.  Die weichen Schläge des Schlagzeugs sind schnell, doch beruhigend, die Gitarre spielt leise, doch hörbar versetzt zum Rest, das Stück erfordert vollständige Aufmerksamkeit. Verzerrtes Pfeifen. Dumpfe Laute. Entspannung. Verrücktheit. Helles Piano. Springender Bass. Absolut Heterogenes Stimmungsfeld. Musikdynamik par excellence. Unsägliche Gefühle werden in der Musik mit zauberhaften Vorstellungen geeint. Wunderbar passend singt Lionel Loueke das nächste Lied in einer Klick-Laut-Sprache an. Eine religiöse, spirituelle Jazzmusik schallt nach außen in den weiten Raum. Das Spiel entfaltet eine innere Kraft, die deutlich spürbar ist im ganzen Körper. Des Menschen Körper wird unweigerlich zum Resonanzkörper, zur Antwort auf die Fragen nach dem Gegenstand der Wellen, die von den Künstlern angestaut versandt werden. Sofort wird wieder gefunkt. Dieses Konzert ist ein lebendiges Gespräch, das mit der Unterschiedlichkeit der Spielarten der einzelnen Stücke alle Themen abdeckt, die dem Hörer reflexiv zur Musik einfallen, um von ihm selbst wieder eingefangen zu werden. Musik ist Verstehen und Verstehensgegenstand zu gleichen Zeit. Sie versteht sich durch sich und den Betrachter. Verstehen ist nicht endlich. Folglich ist es die Musik auch nicht. Sie ist eine unmissverständlich ewige Konversation ohne Wiederholung. Was bedeutet es, wenn Musik zur Sprache wird?

{image}Alle verlassen die Bühne. Herbie bleibt zurück. Wie vor zwei Jahren stimmt er in seinem 20-minütigen Solo ruhige Töne an und trifft damit unmittelbar das Innere des Hörers. Der Saal hängt voller Gedanken. Herbie spielt ernste Worte, flüssige Notenkombinationen in sachter Strenge, der Saal schließt seine Augen. Das ohne Überdruck kraftvolle Solo erhellt die tränenklaren Gesichter der Zuhörer und wirkt durch sein durchgängiges hohes Spiel. Ein endloses Luftholen, ein Sich-Besinnen-Auf. Das Spiel wird schneller, bleibt aber klar, beruhigt sich, kommt an den Rand der Ruhe. Die anderen Musiker kommen zurück. Die Sängerin spielt zu einem schnellen Jazzstück Violine. Herbie sitzt mit halb geöffneten Mund und starrem Blick, wie in Trance, vor den Tasten und spielt groß auf. Die ganze Band spielt groß auf. Alle sind vollständig eingenommen von der Musik. Der Bassist scheint stumme logopädische Übungen zu seinen Tönen vollziehen. Er bewegt seine Lippen lautlos zu jedem Saitenanschlag und leckt sich die Lippen. Das Stück beruhigt sich phasenweise in dem Song Cantaloop und kehrt dann wieder zu seinem schnelleren Charakter zurück, um sich schlussendlich ganz zu beruhigen. Vollständig eingenommen. "Change is gonna come". Herbie zitiert Bob Dylan und spricht wiederum von The imagine project.

{image}Der Undercover-Sänger Greg Phillinganes tritt nach vorn an den Mikroständer. Er singt mit einer mächtigen, eindrucksvollen Stimme zuerst in das Mikrofon, dann, da seine Stimme durch seine Überzeugunskraft das nicht braucht, ohne technische Unterstützung direkt in den Konzertsaal hinein. Die Zuschauer sind sichtlich erstaunt. Große Augen drücken größten Respekt aus. Unglaublich wie hoch er in der Tonleiter kommt. Und wie klar und versiert er singt. Außerdem wirkt er bei seinem Gesangsauftritt sehr abgeklärt, lässt die Arme hängen und setzt der Abgeklärtheit die Krone auf, indem er nach dem letzten Ton den Mikroständer aus der Hand gleiten lässt, so dass er, während der Musical Director zu seinem Platz an den Keys zurückgeht, den Schwung bis zum Stillstand auslebt. Ein letztes Stück. Verabschiedung. Die Konversation kann noch nicht vorbei sein. Das Publikum hat sich noch nicht verabschiedet. Rock itFuture Sounds. Das Schlusswort mit Aussicht auf Veränderung. Verabschiedung. Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen. Für die nächsten zwei Jahre.

Was bedeutet es, wenn Musik zur Sprache wird? Die Antwort – die Antwort kann wohl nur in Noten versprachlicht werden.

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