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Chucho Valdes (live in Ludwigshafen, 2010) © Hannes Mezger

Seit den 80er Jahren ist Chucho Valdes beim Blue Note-Label unter Vertrag und vornehmlich in kleineren Formationen oder solo auf der Bühne zu erleben gewesen. Nun war er mit seiner Band The Afro-Cuban Messengers beim Enjoy Jazz-Festival.

{image}Chucho Valdes betritt die Bühne. Seine Hand bewegt sich leise nach oben, der Gruß wird vorbereitet, eine Geste bedeutet der Band und den Zuschauern seine Ankunft. Die Hand erreicht angemessene Höhe, sie schwingt in einem seichten Takt. Chucho Valdes & The Afro-Cuban Messengers treten an ihre Instrumente. Die Band ist bereit, den direkten Weg zu den zahlreich erschienenen Menschen zu begehen – den Weg über den Rhythmus. Alle Mitspieler des musikkörperlich großen Pianisten sind positioniert, der Protagonist in diesem Spiel allerdings dreht sich noch einmal um und deutet eine Verbeugung an. Den Menschen auf den Sitzen wird bereits vor dem Konzert schon Dank entgegen gebracht. Dieser Dank sollte später auf doppelte Weise erwidert werden. Noch eine Umdrehung. Sein Gesicht lacht. Einmal den Kopf noch drehen. Jetzt setzt er sich auf den Schemel vor dem Piano. Nein – seine Hose sitzt nicht richtig. Zurecht gerückt. Jetzt setzt er sich auf den Schemel vor dem Piano. Ja, jetzt sitzt er und signalisiert mit einem Fingerzeig den Beginn des Abends. Anderthalb Stunden Emotion erwarten den Zuschauer. Anderthalb gefühlsintensive Stunden zwischen Lust, Leid, Empathie, Sympathie, Schmerz und Euphorie.

{image}Schon von Anfang an zeigt sich, dass jeder einzelne Künstler seinen eigenen Raum verdient. Jeder Musiker darf und soll seine Individualität nach außen kehren. Chucho Valdes ist kein Egoist und begreift sich nicht als solchen. Wie sollte ein harmonischer Dialog unter Musikern auch sonst funktionieren? Er wirkt wie der musikalische Ziehvater der Band, die allesamt ihre Augen spätestens jeden vierten Takt auf Chucho richten, um dessen weiterführendes Bestreben zu erkennen. Der Percussionist gibt sich als erstes die Ehre und beginnt ein Solo an den Umhängebongos. Er begleitet sein Spiel mit einem südlich klingenden Gesang, der nicht gewöhnungsbedürftig ist. Yansa wird das Stück betitelt. Diese Musik ist anders. Und doch gleich. Denn diese Musik fühlt sich gut an.

{image}Ob europäischer Jazz, ob lateinamerikanischer Jazz; Musik verkleidet sich ständig und man erkennt sie doch. Denn man spürt sie. An sich und in sich. Im Kollektiv folgen sukzessiv die anderen Bandmitglieder dem Percussionisten und stimmen ein mit Backgroundvocals. Die Atmosphäre ist sehr entspannt. Das Konzert wirkt wie ein komplettes Stück. Obwohl die Rhytmen ständig wechseln, die Geschwindigkeiten sich laufend ändern, die Musik aufhört für einen Moment, das Herz der Künstler und der Betrachter schlagen unaufhörlich im Gleichtakt. Saxophonsolo. Passioniert und Gekonnt. Direkt im Anschluss gibt Chucho Valdes eine erste Kostprobe seiner Fingerfertigkeiten an den Tasten. Melodisch und frei. Sein Spiel vollzieht sich sehr dynamisch und nimmt die gesamte Aufmerksamkeit des Saales in sich auf. Die Melodie verliert sich, löst sich auf in freiem schnellen, abrupt abbrechendem, sofort wiederkehrendem Spiel, und findet sich nahtlos wieder. Die Melodie des Abends. Valdes beherrscht das Spiel. Beherrscht dadurch dessen Wirkung. Beherrscht dadurch jeden Hörer. Saxophonsolo. Gekonnt und passioniert. Währenddessen spielt der Hauptdarsteller am Klavier mit einer Hand, weist mit der anderen Hand den Tontechniker an und hat trotz allem seine musikalischen Ziehsöhne im vertrauensvollen Blick. Unter den Musikern besteht eine ausgelassene Stimmung, die aber den Ernst des Spiels nicht tilgt. Im Gegenteil, zu erkennen ist eine Band, die sich ihrer Verantwortung sich selbst gegenüber sehr wohl bewusst ist und sich dementsprechend verhält. Percussionist und Trommler tanzen synchron hinter den Instrumenten. Gute Laune. Greift unverbindlich auf den Betrachter über. Gute Laune überall.

{image}Aber: Ein irritierendes Moment taucht plötzlich auf. Ob geplant oder nicht bleibt ungeklärt. Das Trompetensolo wird von dem sitzenden Dirigenten nach extrem kurzer Zeit mit einer Handbewegung abgebrochen. Sei es so. Wird seinen Grund haben. Dem enthusiastischen Spiel hat es in des Zuhörers Ohren nicht geschadet. Schlagzeugsolo. Der gesamte Körper des Drummers inklusive seiner durchgehend freudig nach oben gezogenen Gesichtsmuskeln spielt mit. Ein Hüpfer mit der Kick. Ein Augenaufschlag mit der Snare. Ein Hüftrutsch mit der Hi-Hat. Und immer Lachen. Und dann alles zusammen. Ein Gesamtwerk des verkörperten Auslebens am Schlagzeug. Tosender Beifall. Verbeugung. Mehr Beifall. Verbeugung. Noch mehr Beifall. Das irritierende Moment ist längst vergessen, da tritt der Herr an der Trompete erneut in den Mittelpunkt. Wieder schnell vorbei. Scheint Usus zu sein. Wie gesagt. Das Spiel kommt unbeschadet davon.

{image}Wer bislang unerwähnt blieb, ist der Bassist. Ein reserviert wirkender etwas kleinerer junger Mann, dessen stetes Grinsen so keck und smart unauffällig ist, dass, wenn der Zuschauer es bemerkt, er einen unglaublich charmanten Eindruck hinterlässt. Sein Blick ist beinahe ausschließlich auf Chucho Valdes gerichtet. Ein wissensbegieriger Blick. Ein durchdringender, jedoch liebevoller Blick. Ein Blick, der preisgibt, dass noch etwas zu erwarten ist. Chucho erwidert seine Blicke. Er weiß, was seine Leute auf der Bühne können und brauchen, um noch besser zu spielen. Aufmerksamkeit und eine Strenge in der Programmführung, die genug Freiräume für die Entfaltung der Musiker lässt. Auf diese Weise bewegen sich die Künstler auch auf der Bühne. Sie gehen frei herum. Sie verweilen am Instrument des anderen, saugen die Musik auf, verarbeiten sie, tanzen.

{image}Am Rande sei bemerkt, dass das Licht im Konzertsaal etwas zu wünschen übrig lässt. Dadurch, dass die Bühne sehr groß ist für ein 6-köpfiges Ensemble, ist sie viel zu stark beleuchtet. Wäre ein Spot auf die Bühnenmitte gerichtet, wirkte die Fläche insgesamt ein bisschen kleiner und somit angemessener für ein Jazzauftritt. Salopp formuliert tritt ein Schulballeffekt ein. Das meint, dass die Veranstaltung rein äußerlich wie ein offizieller Programmpunkt im Rahmen einer Zeugnisvergabe wirkt. Wäre da nicht diese Musik, die alles andere nichtig erscheinen lässt. Diese Musik, die jeden Anwesenden vollständig vereinnahmt. Diese Musik, die hörig macht. Trommelsolo. Unglaublich. Unglaubliche Geschwindigkeit beider Hände. Die unterschiedlichen Schläge sind hör- doch nicht sichtbar. Wirklich beeindruckend eindrücklich. Teilweise stehen die Besucher auf, weil sie nicht verstehen, woher die Laute kommen, die die Sinne treffen. Dabei wissen sie noch gar nicht, was  im direkten Anschluss hier im Pfalzbau passiert. Das Solo von dem Mann, dessen Name dieser Abend an sich trägt. Das Solo von Chucho Valdes. Komplexe wirr erscheinende Improvisationsintervalle folgen auf dünn gespielte Melodien, die wiederum in einem heftigen Spiel enden, um noch zarter wieder zu kehren. Alle Emotionen werden hervorgerufen, immer anders, immer intensiv, immer raumfüllend. Eine ergreifende Szenerie bietet sich dem Jazzhörer, der überhaupt keine Möglichkeit besitzt Gegenwehr zu leisten in diesem Manipulationsspiel der Gefühle.

{image}Bei einem derartigen Treiben am Piano stellt sich irgendwann die Frage selbst in den Raum: Wieso fühlt der Mensch so viel so stark so unkontrolliert, wenn auf seinen Körper, in seine Organe, einfache Vibrationen und Schwingungen treffen?  Diese Frage wird hinfällig, sobald der Mensch erkennt, dass die Antwort alleine etwas Entkörpertes liefert. Die Antwort beschreibt nichts Physisches, nichts Fassbares, nur Formloses, weit Geöffnetes. Die Antwort ist eine Herzensangelegenheit. Mehr als Herz braucht es nicht, um die Antwort zu geben auf die Frage nach dem Auslöser der Gefühle. Denn der Auslöser liegt nicht in dem Bereich des menschlich Beantwortbarem. Der Auslöser des Gefühls kann für den Menschen nur das Gefühl selbst sein, dass ihn ungeniert trifft, unkontrolliert in ihn tritt und ungehemmt veräußert wird. Mehr braucht der Mensch nicht. Außer eventuell noch ein Piano. Eine Steigerung ist fast unmöglich. Dennoch wird der Gast noch Zeuge eines unfassbar schönen Moments. Das Solo des Bassisten. Dieser zurückhaltende Musiker, der ununterbrochen alle Stücke begleitet und treibt, oft außerhalb der direkten Wahrnehmung des Hörers, nimmt den ganzen Saal für sich, um all sein Können zu offenbaren. Ein Moment des Öffnens. Ein Moment, in dem dieser Kerl ein offenes Lachen bereitstellt.

{image}Nach etwas über einer Stunde scheint das Programm zu Ende zu sein. Die Band verabschiedet sich. Alle verlassen die Bühne. Das kann es nicht gewesen sein. So viel Gefühl, so viel Wertschätzung auf Seiten der Künstler, auf Seiten des Auditoriums kann noch nicht vorüber sein. Stehende Ovationen. Einer nach dem anderen erhebt sich. Bis alle stehen. Zugabe. Freude am Zusammenspiel. Am Zusammenspiel der Künstler. Am Zusammenspiel der Künstler mit den Zuschauern. Die Menschen bleiben stehen.

Der Percussionist löst sich aus der Gruppe, rennt an den Bühnenrand, ermuntert die Menge zum Klatschen, um den Rhythmus zu geben und wirft – in ein Jazzkonzert – eine Tanzform ein, die man eigentlich einem anderen Genre zuschreibt. Breakdance. Nur ein weiteres Zeichen dafür, dass die Kunstarten einer Sache entspringen. Der Kunst an sich. Die Kunst an sich, die nicht aufhört zu wirken. Die nicht aufhört zu begeistern. Zum zweiten Mal verlassen die Spieler die Bühne. Zum zweiten Mal Stehende Ovationen. Zum dritten Mal betreten die Künstler die Bühne. Cha cha cha. Der Bassist singt die Leitstimme. Die Menschen werden leise. Sind gerührt. Lächeln still, nicht heimlich. Der Bassist singt den letzten Ton. Kollektive Begeisterung. Die Bandkollegen stürzen sich auf ihn, reiben ihm mit der Faust die Kopfhaut wie einem Knaben, der sich zu etwas überwunden hat und es absolut großartig umgesetzt hat. Eine Gruppe kreativer Menschen verlässt zum letzten Mal die Bühne. Das Publikum löst sich aus der musikalischen Umarmung. Und lächelt.

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