Anthony Braxton & Diamond Curtain Wall Trio

Anthony Braxton & Diamond Curtain Wall Trio © R. Cifarelli

Während eines seiner seltenen Auftritte in Deutschland bietet der legendäre amerikanische Freejazzer Anthony Braxton faszinierende Einblicke in sein kreatives musikalisches Schaffen.

{image}Vielleicht war negative Mundpropaganda die Ursache, dass sich zu Beginn des diesjährigen Enjoy Jazz-Festivals nur so wenige Besucher in der Aula der Universität Mannheim versammelt hatten. "Sperrig" sei Anthony Braxtons Diamond Curtain Wall Trio und sehr "elektronisch" – was nicht als Lob gemeint war. Wie zu erwarten war, dominieren Männer älteren Semesters den halbgefüllten Saal, junge Zuschauer sind hingegen nur spärlich vertreten. Die Bezeichnung "Trio" ist inzwischen überholt, denn Braxton hat die Gruppe durch André Vida am Bariton- und Alt-Sax zum Quartett erweitert. Anthony Braxton selbst spielt Sopran- und Alt-Saxophon, Taylor Ho Bynum Trompeten und Flügelhorn und Mary Halvorson Gitarre. Das fünfte Element des Klangs liefert ein unregelmäßiger, stets in Charakter und Lautstärke wechselnder elektronischer Hintergrund, den Braxton mit Notebook und Konsole steuert. Der elektronische Hintergrund gibt weder Rhythmus noch Melodien vor, sondern schafft ein Klangfundament, das den beteiligten Musikern als Basis für die Improvisationen dient.

{image}Bynum benutzt zu Beginn seine Trompeten vornehmlich dazu, scharfe, spitze Schreie auszustoßen, während Halvorson ihre Gitarre gleichmäßig grob anschlägt und so monotone metallische Klänge erzeugt. Die beiden Saxophonisten bereichern den Klang um kurze Motive und Soundfetzen, Vida im tiefen Register des Baritonsaxophones, das er manchmal gemeinsam mit dem Altsaxophon spielt. Anthony Braxtons eigenes Spiel beinhaltet zumindest vereinzelte Elemente des konventionellen Jazz, darunter einige längere Soli, die weniger extrem und ausgefallen sind als die Soundexperimente Bynums, der im Verlauf des Konzert beispielsweise Wasser in seine Trompete gießt, um glucksende Geräusche zu erzeugen. Von den anwesenden Musikern scheint Braxton am stärksten in der Tradition des Jazz verwurzelt zu sein, während seine aus viel jüngeren Musikern bestehende Band ihn konstant antreibt, die avantgardistischeren Aspekte seines Wesens auszuleben.

Auf diese Weise schaffen Anthony Braxton und das Diamond Curtain Wall Quartet ein einziges ununterbrochenes Stück kontinuierlicher Musik. Es handelt sich aber nicht um eine Suite oder etwas Vergleichbares, sondern um eine Collage von Klängen, die in ständigem Wandel begriffen ist. In diesem konstanten Fluss existiert keine offensichtliche Struktur, die dem Zuhörer Orientierung bieten könnte. Die einzige Konstante ist das stetige Fortschreiten des Zusammenspiels, das nie erkenntlich zurückblickt oder Bekanntes aufgreift, sondern stets bemüht ist, neue Extreme zu erkunden und Grenzen auszuloten. So finden sich die Musiker in stets neuen Kombinationen zusammen: Es entstehen kurze Soli, Duette und Trios, die so schnell wieder vorüber sind, wie sie sich gebildet haben. Kurze Augenblicke harmonischen Zusammenspiels, in denen sich wie aus dem Nichts spontan eine Struktur ergibt, lösen sich in kürzester Zeit wieder auf.

{image}Je länger die Zuschauer diesem faszinierenden Prozess beiwohnen, umso vertrauter und nahbarer wirken die bewegten Klänge, die ihn umgeben. Man kann gar nicht genug ermessen, wie wichtig es ist, die Musiker dabei zu beobachten und sich dadurch der Entstehungsweise zu nähern. Ein Mitschnitt des Konzertes ohne Bild würde den Zuhörer dieser Möglichkeit berauben und die ganze Musik erschiene wesentlich unzugänglicher und schwieriger als sie es – das soll nicht verschwiegen werden – sowieso schon ist. Als die in der Mitte der Bühne auf einem Podest thronende Sanduhr abgelaufen ist, symbolisiert das möglicherweise nicht nur das bald bevorstehende Ende des siebzigminütigen Konzertes, sondern auch den ungleichmäßigen, aber stetigen Fluss der Zeit, der sich in Braxtons Musik widerspiegelt. Der anhaltende Applaus der Zuschauer veranlasst die Musiker sogar noch einmal eine sehr kurze Zugabe zu spielen, die wohl als Geste der Anerkennung für das Publikum gedacht ist.

Kurz nachdem der letzte Applaus verklungen ist, kommen die Musiker aus dem Backstage-Bereich wieder auf die Bühne unterhalten sich entspannt mit den Zuschauern und verteilen Autogramme. Anthony Braxton selbst signiert ein uraltes Bild von ihm aus dem Jahre 1974 aus Baden-Baden, das einer der Zuschauer mitgebracht hat. Er lacht, schüttelt Hände und bedankt sich überschwänglich: Deutschland sei für ihn eine zweite Heimat, er sei afro-amerikanisch und deutsch zugleich. Diese sympathische Schmeichelei benutzt er zum Anlass, von deutschen Komponisten klassischer Musik zu schwärmen, insbesondere von Bach und Beethoven. Er bezeichnet sich selbst als "student of music", dem aber leider die Zeit fehle, um klassische Musik auch selbst zu spielen. Dann verschwindet er und hinterlässt bei den verbliebenen Zuschauern Dankbarkeit und Glück, diese Ikone des Free-Jazz erlebt zu haben.

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