Jethro Tull (live in Mannheim 2018)

Jethro Tull (live in Mannheim 2018) © Rudi Brand

"Jethro Tull by Ian Anderson - 50th Anniversary Tour" bietet im fast ausverkauften Mannheimer Rosengarten ein musikalisch und konzeptionell überzeugendes Konzert. Ian Andersons Stimmprobleme lassen sich allerdings weder überhören noch übersehen.

Kurz nach 19 Uhr britischer Zeit beginnt die chronologische Zeitreise für die zahlreich erschienenen Tullanhänger, die inzwischen jährlich in den Genuss von Ian Anderson-Konzerten auf deutschem Boden kommen.

Jethro Tull sind seit 50 Jahren eine feste Größe im Rockzirkus und auch an diesem Abend schafft es der Flötenderwisch™ wieder den Mannheimer Rosengarten auch mit jüngeren Tullfans bestens zu füllen. Bevor es losgeht, wird das Publikum mehrfach auf das strenge Video- und Fotoverbot hingewiesen, woran sich fast alle Fans auch halten. Fast. Doch dazu später mehr.

Zum Auftakt tönt "Beggar’s Farm" als Videomontage im Röhrenfernseher von der Leinwand und nimmt die Zuschauer mit Bildern der legendären ersten Besetzung und vom sagenumwobenen Marquee Club mit in das Gründungsjahr 1968.

This Was & der reine Blues zu Beginn

Das fatalistisch "This Was" titulierte Debüt der Band wird dann gleich mit fünf weiteren bluesgetränkten Stücken ordentlich abgefeiert. Kürzlich erschien der Remix von Steven Wilson, der im Jahrestakt hervorragende Neuauflagen der klassischen Tull-Alben erstellt und damit die Fangemeinde in Atem hält.

Ian Anderson wechselt zwischen Mundharmonika und Flöte und erzählt vom Rock'n'Roll Circus, dem berühmten TV-Special der Rolling Stones, bei dem Jethro Tull damals spielten. Gitarrist Tony Iommi trat bei dieser Gelegenheit zum einzigen Mal mit Jethro Tull auf, bevor er nach Birmingham zurückkehrte, um ein Jahr später Black Sabbath zu gründen.

Clevere Inszenierung

Sein Gruß von der Leinwand ist nur ein Beispiel für eine ganze Reihe eigens für die Tour erstellter Videoclips in denen ehemalige Mitglieder wie Gitarrist Mike Abrahams und Bassist Jeffrey Hammond-Hammond und prominente Fans ihre Lieblingssongs von Jethro Tull ankündigen. Die clever arrangierten Videos erzeugen die Illusion, dass die erste und die aktuelle Bandbesetzung die Stücke gemeinsam spielen.

Die rare One-Off Single "Love Story" klingt dabei bemerkenswert psychedelisch und das Talkin' Blues Duett "Some Day The Sun Won’t Shine For You" mit Florian Ophale an der Gitarre steht Anderson an der Bluesharp auch gesanglich gut zu Gesicht. Ein sehr toller, emotionaler und nostalgischer Auftakt.

Stand Up & stimmliche Probleme

Bereits 1969 hatte die Band den urigen Blues mit dem groovenden "A New Day Yesterday" und der Bachadaption "Bourrée" verfeinert und konnte auch in Amerika Fuß fassen. Spätestens bei ersterem zeigen sich aber wieder – wie seit Jahren – deutliche Schwächen in Andersons Gesang.

Dieser muss sich offensichtlich gewaltig anstrengen, um die Töne überhaupt hervorpressen zu können. Natürlich hat ein alternder Sänger wie Anderson, der immer viel Kraft in seine Gesangsstimme investierte und gleichzeitig permanent die Flöte blies, nicht mehr das Volumen wie in den 1970ern, aber der Unterschied ist eben doch gravierend. 

Der Gesang ist im Vergleich zu den Instrumenten gelegentlich seltsam verfremdet und teilweise im Hintergrund gehalten. Insgesamt handelt es sich um eine schwierige Gratwanderung, gerade bei den lauteren Rocksongs, war doch der ausdrucksstarke Gesang Andersons einst eine der großen Stärken der Band.

Aqualung & intakter Habitus

Die stimmlichen Unzulänglichkeiten setzten sich leider auch bei "My God" von "Aqualung" fort, das in seiner verkürzten Fassung mit seinen Laut/Leise-Passagen nicht die Größe früherer Darbietungen erreicht. Mit der vorsichtigen Kirchenkritik des Liedes handelte sich die Band 1971 im bigotten Amerika 1971 heftigen Angriffe ein, was man sich heute kaum noch vorstellen kann.

Es ist immer noch eine Freude, dem stets eloquenten Mastermind bei solchen Kurzanekdoten zuzuhören. Mit schwarz-weisem Outfit, obligatorischer Sonnenbrille und Kopftuch hat der legendäre Pied Piper immer noch die körperliche Power seine Mätzchen und Ticks an der Flöte bestens zur Schau zu stellen, was das Publikum auch immer wieder mit Applaus belohnt.

Thick as A Brick & A Passion Play

Nach einer knappen Stunde gibt es noch obligatorische Auszüge aus dem Konzeptalbum "Thick As A Brick" von 1972, dessen denkwürdiges "And you wise man don’t know how it feels…" mit Anderson an der akustischen Gitarre eine kleine Pause einläutet.

Danach stürmt unvermittelt das wie eh und je kaum zu fassende "A Passion Play" von 1973 über das Publikum hinweg. Diese schwierige, progressive Phase der Band stellt bis heute für viele eine große Herausforderung dar und brachte die Band damals in der Musikpresse in Misskredit.

Too Old To Rock'N'Roll & Hilfe beim Gesang

Wenn Anderson mit seiner damaligen Bandbesetzung augenzwinkernd zu alt für Rock n Roll war, dann hat er sicher nicht daran gedacht, was 40 Jahre später sein würde. Der "Evergreen" findet jedenfalls großen Anklang im Auditorium.

John O‘Hara an den Tasten und David Goodier am Bass unterstützen ihren "Chef" nun auch mehr gesanglich und übernehmen zum Teil sogar seinen Hauptgesang. Ein waghalsiges Unterfangen, das aber zusammen mit den Einspielungen der Videoprojektionen als Konzept funktioniert.

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Songs From The Wood & Weihnachtsvorfreuden

Auch Songs From The Wood", der furiose Titelsong des ersten Albums der Folkrock-Triologie 1977-1979 profitiert vom mehrstimmigen Gesang. "Ring Out Solstice Bells", Ende 1976 als Weihnachtssingle veröffentlicht, kann nur dargeboten werden, weil Anderson den Gesang komplett an seine Band abgibt und sich auf sein Flötenspiel konzentriert.

Die Darbietung ist fokussiert, nah am Original, enthält aber neue, rockige Impulse. Im Hintergrund sieht man den jungen Anderson wie er energiegeladen seinen "Last Minute"-Auftritt bei "Top Of The Pops" absolviert. Ein wunderbarer Anachronismus.

Heavy Horses & Stormwatch

Die Band lässt nahezu keine Phase aus und auch die Jahre 1978-1979 brachten Highlights im Tull-Repertoire. Der frühere Publikumsliebling John Evans, seines Zeichens erster Keyboarder der Band, kündigt als Sonnenblume verkleidet seinen Lieblingssong "Heavy Horses" an und vermittelt etwas vom schrillen Humor der 1970er, als alle Bandmitglieder ihre eigenen Bühnenakzente setzten.

Unnur Birna Björnsdóttir übernimmt lautstark von der Videoprojektion aus den Gesang im Refrain und spielt die Geige wie einst Gast Darryl Way auf der Originalaufnahme. Die ganze Darbietung ist an die letztjährige Rockoper-Projektion angelehnt, funktioniert jetzt aber besser und scheint ausgereifter. Das eher selten gespielte "Past Time With Good Company“ streift die 2019 als Reissue erscheinende "Stormwatch"-Platte. Als Instrumental und Verbeugung vor King Henry VIII funktioniert es immer noch prächtig. 

Crest Of A Knave & das Comeback in den 1980ern

Bezeichnenderweise ist "Farm On The Freeway" das einzige Stück der letzten 35 Jahre. Der wuchtige Kracher aus dem 1987er Comebackalbum "Crest Of A Knave" stapft immer noch majestätisch und flötengetrieben voran.

Jethro Tull hatten damals etwas wiedergutzumachen, da die Band mit dem experimentellen "Under Warps" 1984 nicht nur Teile ihres Publikums verloren hatten, sondern Anderson erstmals auch seine Gesangsstimme auf der dazugehörigen, anspruchsvollen Tournee einbüßte. Die Auswirkungen sind noch heute spür- und hörbar.

Finale mit Aqualung & Locomotive Breath

Ohne diese beiden Songs ist seit 1971 kein Jethro Tull Konzert vollständig. "Aqualung" wird von Slash angekündigt und kracht laut über die Bretter. Anderson bringt dem Klassiker immer wieder ruhigere Töne bei und Ryan O’Donnell zeigt als virtueller Gastsänger erneut, dass er mehr als nur eine Nebenrolle bei der Frage der Gesangsverstärkung spielen könnte.

Kurz vor Ende erspäht das Tull-Mastermind einen Handyfilmer, reagiert extrem gereizt mit einer Drohgebärde, bringt den Song aber doch souverän wie immer zu Ende. Bei der unvermeidlichen Zugabe "Locomotive Breath" will das Publikum dieses Mal nicht, wie sonst immer, von den Stühlen aufstehen. Man klatscht und johlt trotzdem gewaltig und Anderson ist Profi genug, mit seinen alten Trademarks am Bühnenrand das Konzert zur Zufriedenheit seiner Fans zu Ende zu bringen.

Nur die Hits

Ian Anderson muss sich nach 50 Jahren nichts mehr beweisen. Ob er nun diese seit 1988 ständig stattfindenden Best Of-Tourneen tätigt, um sein Bankkonto im Gleichgewicht zu halten oder ob er tatsächlich noch kreatives Feuer in sich trägt, wird sich 2019 zeigen, wenn er eine neue Studioplatte veröffentlichen will.

Trotz kreativer Geistesblitze wie "Thick As A Brick II" 2012 und "Homo Erraticus" 2014 bietet Ian Anderson seit Jahrzehnten ähnliche Best-Of Tourneen und geht auch bei der Setlist kaum Wagnisse ein. Die Begründung gibt er im aktuellen Tourprogramm selbst. Die Leute kämen nicht zum Jubiläumskonzert um das Beste der B-Seiten zu sehen, sondern erwarteten die Hits.

Fazit & Ausblick

Bis zur nächsten Tournee, sollte Anderson jedoch dringend an der Gesangsfrage arbeiten, beispielsweise indem er einen vor Ort (und nicht nur auf Leinwand präsenten) Sänger einbindet. Ein Alphatier wie Ian Anderson gibt aber eben nur schwer das Heft aus der Hand, hat er doch Dutzende von Begleitmusikern in 50 Jahren ausgetauscht.

Musikalisch ist die aktuelle Besetzung allerdings fast über jeden Zweifel erhaben und hat das Zeug dazu, ihn noch ein paar Jahre zu begleiten. 2018 sprechen jedenfalls immer noch genügend Gründe dafür, sich diese virtuose, homogene Mischung aus Folk, Rock und Blues im Rahmen eines Konzerts anzuschauen.

Setlist

My Sunday Feeling / Love Story / A Song for Jeffrey / Some Day the Sun Won't Shine for You / Dharma for One / A New Day Yesterday / Bourrée in E minor / My God /  Thick as a Brick / A Passion Play / Too Old to Rock 'n' Roll, Too Young to Die / Songs From the Wood / Ring Out, Solstice Bells / Heavy Horses / Farm on the Freeway / Aqualung / Locomotive Breath

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