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© Jetztmusik Festival

Lubomyr Melnyk, alias der schnellste Pianist der Welt, zeigt bei einem emotionalen Konzert in der Alten Feuerwache in Mannheim im Rahmen des Jetztmusik Festivals, dass sein kompositorisches Talent seinem technischen Können nicht nachsteht.

Googelt der interessierte Musikhörer nach Lubomyr Melnyk, ist das erste Ergebnis wohl, dass es sich bei dem bärtigen Ukrainer um den schnellsten Pianisten der Welt handelt: Genau 19,5 Noten in der Sekunde (!) ist er in der Lage zu spielen. Das ist mehr, als das menschliche Ohr wahrnehmen kann.

Mit dieser charakteristischen Spielweise hat Melnyk die Continuous Music geprägt, ein von Minimal Music und spätromantischer Melancholie geprägter Stil, dessen einziger Vertreter er selbst ist – einfach, weil (laut Melnyk selbst) kein anderer Pianist der Welt so schnell spielen kann.

Ausufernde Einleitungen

Lubomyr Melnyks Auftritt beim Jetztmusik Festival in der Alten Feuerwache verspricht also schon im Vorfeld, ein technisch beeindruckendes Erlebnis zu werden, birgt auf der anderen Seite aber auch das Potential, genau dadurch ein reines Zurschaustellen von Können zu werden. Dass dies zu keinem Zeitpunkt der Fall ist, liegt zweifelsohne an Melnyks emotionaler Auffassung von Musik.

Auch, wenn es durch den langen Monolog des Pianisten noch vor dem ersten Song erst einmal nicht wirkt, als würde dieser in nächster Zeit anfangen zu spielen, offenbart sein Vortrag, dass Musik bzw. Klang für ihn eine metaphysische, tiefere Bedeutung und Kraft hat. Das mag dem ein oder anderen vielleicht zu viel skurriler New-Age-Mystizismus zu sein, verfehlt aber nicht, dem Publikum Melnyks Leidenschaft vor Augen zu führen.

Uferloses Treiben

Genau diese Leidenschaft ist es, die die Songs Melynks antreibt und zum Leben erweckt. Das zeigt bereits das erste Stück, das auf seine etwas ausufernde Einführung folgt: Aus einer einfachen, melancholischen Folge von einzelnen Tönen entwickelt Melnyk langsam und mit eigenwilliger rhythmischer Dynamik eine immer schneller und voller werdende Melodie.

Durch die sich steigernde Schnelligkeit gehen die Töne immer mehr ineinander über. Es entsteht ein regelrechter Sog, den Melnyk mit geschlossenen Augen und in vollster Konzentration immer weiter über die Klaviatur ausbreitet, ohne dabei jedoch die anfangs etablierten Themen zu vernachlässigen: Immer wieder tauchen diese im Strom der fließenden Noten wieder auf.

Treibender Rhythmus

Auch die beiden folgenden Songs, die Lubomyr Melnyk vor einer kurzen Pause (und nach weiteren, ausführlichen Einleitungen) aufführt, ähneln dem ersten Stück stilistisch, ohne dabei jedoch derivativ zu klingen. Er variiert und improvisiert meist kurze, melancholische Melodiefetzen, deren harmonischer Kontext von seinem rasend schnellen Spiel geschaffen wird, lässt sogar in manchen Harmoniewechseln jazzige Dissonanzen anklingen, ohne dabei Dynamik und Abwechslung zu vernachlässigen.

Im ersten Song, der auf die Eröffnung folgt, spielt Melnyk gegen eine früher am Tag entstandene Aufnahme von sich selbst. Hier erkundet er vor allem die durch die sich gegenseitig beeinflussenden Obertöne entstehenden Schwingungen und Muster, während der zweite Song – eigentlich eine Fingerübung – durch eher stoischen Rhythmus und tranceartige Repetition auffällt.

Der Kampf der Windmühle

Auf diese ersten drei Songs folgt eine kurze Pause, worauf Melnyk dann zu seinem längsten Vortrag ansetzt. Da dieser jedoch auch die längste Komposition des Abends ("Windmills", knapp 45 Minuten) einleitet, ist das durchaus angemessen.

Zur Orientierung innerhalb des Songs erzählt Melnyk im Vorfeld die darin enthaltene Geschichte. Man mag es seltsam finden, dass es sich hierbei ausgerechnet um die "Lebensgeschichte" einer Windmühle handelt, kann jedoch nicht leugnen, dass diese mit ihrer obskuren Bildlichkeit tatsächlich einen praktischen Leitfaden für einen Song dieser Länge darstellt.

Fall und Aufstieg

Was sich in der nächsten Dreiviertelstunde entfaltet, ist also die Geschichte einer Windmühle, die zu Beginn in schwerfälligen, dissonanten Tönen zur Betriebsamkeit erwacht, angetrieben von den tiefen, dunklen Klängen des Windes. Im Laufe des Liedes steigert sich das Tempo der Mühle, die Töne werden höher, kontinuierlicher, und beschreiben nach Melnyk einen Zustand perfekter Betriebsamkeit, bevor die Mühle dann in einem schauerlichen Sturm so schnell läuft, dass sie in einem dissonanten Crescendo in sich zusammenstürzt.

Die sich bis zum Kollaps steigernden Töne beeindrucken vor allem durch ihre Geschwindigkeit – laut Melnyk handelt es sich hier um die schnellsten Tonfolgen, die er zu spielen vermag – was gleichzeitig bedeutet, das niemand anderes so schnell zu spielen vermag. Noch beeindruckender ist allerdings der letzte Teil des Liedes, der Aufstieg der "toten" Windmühle in den Himmel und die Erlangung von Transzendenz.

Transzendentes Ende

In diesem Ende wird man in einer Art innerem Zwiegespräch (der Windmühle) Zeuge, wie die Trauer ob des eigenen Todes langsam der Freude über ein gelebtes Leben weicht. Musikalisch vollzieht dies sich in einer Entwicklung von schrägen Akkorden zu einer wirklich wunderschönen, "transzendent" klingenden Schlussmelodie, die geprägt ist von rasendem Tempo und sehr rein und erhaben klingenden Kadenzen. In der abschließenden Wiederholung dieses Endes verbinden sich noch ein letztes Mal Melnyks melodische wie auch spielerische Größe.

Dass der Komponist mit diesem letzten Song eine lebendige, ergreifende Geschichte von Leben und Tod erschaffen hat, zeigen nicht nur die sichtliche Rührung in seinem Gesicht zum Schluss, sondern auch der frenetische Applaus des Publikums, der sich auch nach einigen Minuten noch weigert, zu einem Ende zu finden. 

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