Navid Kermani 2016

Navid Kermani 2016 © alte feuerwache

Navid Kermani, Schriftsteller, Orientalist und Essayist, stellt zur Eröffnung von lesen.hören 10 in der Alten Feuerwache in Mannheim zusammen mit Insa Wilke, Birgitta Assheuer und Isaak Dentler nicht nur Passagen aus seinem eigenen literarischen Werk vor, sondern gedenkt auch dem kürzlich verstorbenen Schirmherren des Literaturfestes, Roger Willemsen.

Die Eröffnungsveranstaltung von lesen.hören 10 steht im Zeichen eines Verstorbenen. Kurz vor dem Auftakt des Literaturfestivals erlag Schirmherr Roger Willemsen seinem Krebsleiden. Der Schock und der Schmerz über seinen Tod sind den Gastgebern und Geladenen von der ersten Minute des Abends an anzumerken.

Emotional und hoffnungsvoll

Dass es dennoch zwei inspirierende und fesselnde Stunden voller brillanter Literatur und aufrichtiger Gespräche werden, ist nicht zuletzt der ehrlichen und emotionalen Spontaneität von Navid Kermani, Programmleiterin Insa Wilke sowie Birgitta Assheuer und Isaak Dentler zuzuschreiben. Das Resultat ist ein ergreifender Abend voller Trauer, der den Blick aber auch hoffnungsvoll in die Zukunft lenkt.

Der Ansturm auf die restlos ausverkaufte Veranstaltung ist groß. Schon eineinhalb Stunden vor Beginn bildet sich eine lange Schlange vor der Tür der Alten Feuerwache in Mannheim. Ursprünglich hatte Roger Willemsen geplant, die Begrüßungsrede wenigstens selbst zu verfassen, wenn er sie schon nicht vortragen konnte, doch dazu kam es nicht mehr. Stattdessen folgen Nachrufe auf den Verstorbenen von Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz und Sören Gerhold, Leiter der Alten Feuerwache.

Ergreifender Abschied

Dadurch rücken die Begrüßung der Gäste, die Danksagung an Sponsoren und Förderer sowie das Thema des Abends ein wenig in den Hintergrund: die Trauer ist allen Sprechern ins Gesicht geschrieben. "Der Tod steht ihm nicht", werden die Gefühle auf den Punkt gebracht.

Vor allem Insa Wilke wirkt erschüttert und tief getroffen. Dennoch kommt kein Trübsinn auf, ganz wie Willemsen es sich wohl gewünscht hätte. Gleich zu Beginn wird klargestellt: Man möchte den Abend genießen, ganz im Sinne des Verstorbenen, der bei jeder seiner Eröffnungsreden erst einmal eines erreichen wollte: das Publikum zum Lachen zu bringen. Und das gelingt trotz des traurigen Ereignisses auch an diesem Abend.

Ein neues Programm

Ursprünglich hatten die Organisatoren eine Führung durch das literarische Werk Navid Kermanis im Sinn gehabt, doch als der Friedenspreisträger von der schweren Krankheit Willemsens erfährt, beschließt er, das Programm komplett umzuwerfen. "Roger sagte vehement nein", erzählt Wilke schmunzelnd. Das große Werk des Orientalisten müsse vermittelt werden. Aber Kermani setzte sich durch.

Im Zentrum des Abends steht noch immer das Werk Kermanis, es teilt sich jedoch das Rampenlicht mit Auszügen aus dem Werk Willemsens. Vorgelesen werden die Texte zum Teil von Kermani selbst, vor allem aber von Assheuer und Dentler, die mit Hilfe ihrer großartigen Stimmen die Welten Kermanis und Willemsens vor dem inneren Auge der Zuhörer entstehen lassen. 

Der Anfang und das Ende

Die Lesung dreht sich um die großen Ereignisse des Lebens, nämlich Geburt und Tod. Zentral für die erste Leserunde ist der Verlust, von beiden Autoren völlig unterschiedlich definiert und wahrgenommen. Und doch liegen beide Texte auf verblüffende Weise dicht beieinander, was Empfindungen und Botschaft angeht. 

Insgesamt vier Leserunden gibt es, auf jede folgt eine kurze Diskussion zwischen Wilke und Kermani. Dieser kannte Willemsen nicht wirklich, denn beide haben sich nie miteinander unterhalten. Eine Begegnung zwischen den beiden, bei der kein Wort gesprochen wird, sorgt bei allen für erlösende Erheiterung. "Navid war einer der Wenigen, die im Schweigen mit Roger verbunden waren", kommentiert Wilke die Anekdote. 

Blindflug durch die Texte

Auch die weltpolitische Lage ist Thema des Abends. Die Texte Kermanis handeln von somalischen Flüchtlingen und der heimlich wiederaufgenommenen Arbeit von Ärzten und Krankenschwestern in einem syrischen Krankenhaus. Thematisch laufen die Texte der beiden Schriftsteller parallel zueinander, obwohl sie von völlig unterschiedlichen Dingen handeln. Die Geburt eines Frühchens wird mit der Landung der Flüchtlinge an der spanischen Küste in Verbindung gebracht, die Beobachtung zweier junger Liebender mit der Betrachtung eines Bildnisses des Malers El Greco.

Die spontane Planung des Abends schimmert immer wieder durch, ohne jedoch zu stören. Vielmehr passen die wenigen Stolperer viel besser zur Situation als ein perfekt durchgeplantes und organisiertes Programm. Dass die Texte überwiegend melancholisch sind und von eher düsteren Themen handeln, verhindert dennoch nicht, dass die Stimmung insgesamt hoffnungsvoll und hin und wieder sogar heiter ist.

Als die Lesung zu Ende geht, fühlt sich das Ende abrupt an. Viele sind noch völlig in den brillanten tiefgründigen Texten versunken und müssen erst in die Realität zurückfinden. Fest steht, dass dieser Abend den Zuschauern im Gedächtnis bleiben wird, verband er doch die Trauer um Roger Willemsen mit einem leichten, heiteren Optimismus, der in der jetzigen Zeit besonders wichtig ist.

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