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Steven Wilson (live in Frankfurt, 2015) © Leonard Kötters

Im vergangenen Jahr überzeugte Steven Wilson mit seinem beeindruckenden Soloalbum "Hand. Cannot. Erase.". 2016 ist noch keine drei Wochen alt, und der Engländer legt bereits mit der neuen Scheibe "4½" und einer grandiosen Show in der Frankfurter Alten Oper nach.

Musikalisch gesehen hat Steven Wilson schon immer sein ganz eigenes Ding gemacht und sich über die Jahre hinweg gerade dadurch in die Herzen zahlreicher Fans gespielt. Düsterheit, Melancholie und Einfallsreichtum zählen dabei zu seinen Markenzeichen, ganz gleich, ob bei seiner früheren Hauptband Porcupine Tree, seinen Nebenaktivitäten Blackfield, No-Man und Storm Corrosion, als Produzent oder in jüngster Vergangenheit zudem als Solokünstler.

Insofern ist auch ein Abend mit Wilson in der Alten Oper als Fortsetzung seines erfolgreichen letzten Jahres irgendwie nur logisch, bringt der experimentierfreudige Brite doch wie nur wenige moderne Rockmusiker eine Myriade verschiedenster Stilrichtungen unter einen Hut. Das Publikum im gut gefüllten Großen Saal erwartet dann auch gespannt, was sich der Meister von der Insel für seinen Abstecher in die Mainmetropole vorgenommen hat.

Präzise wie ein Uhrwerk

Wilson und die vier Mitglieder seiner Band betreten mit deutscher Pünktlichkeit die Bühne. Den Anfang machen inspirierte Fassungen von "First Regret" und "3 Years Older", ehe sich der Engländer unter Jubel zum ersten Mal an seine zahlenden Gäste wendet und in guter, alter Porcupine Tree-Manier ankündigt, "Hand. Cannot. Erase." komplett zu spielen. Mit dem stimmungsvollen Titelsong folgt darauf das erste Highlight des Abends.

Publikum wie Band präsentieren sich äußerst gut aufgelegt. Allenfalls die im Mix anfangs etwas zu ausgeprägten Höhen trüben zunächst den Gesamteindruck. Dieser kleine Malus ist aber bald korrigiert, und die Musiker auf der Bühne dürfen ihr Können demonstrieren. In "Perfect Life" greift Basser Nick Beggs beispielsweise zum Chapman Stick. Ebenso wie Wilson selbst beweist er im Verlauf des Konzerts noch an etlichen weiteren Instrumenten wie Gitarre und Keyboard seine Fähigkeiten.

Brillante audiovisuelle Umsetzung

Unterstützung erhält die Gruppe auf der Videoleinwand, die immer wieder mit Einspielungen von Real- und Trickfilmsequenzen die Geschichte der vereinsamten und früh verstorbenen Joyce Vincent in "Hand. Cannot. Erase." auf eindrucksvolle Weise bildlich untermauert. Ebenfalls dabei ist die israelische Sängerin Ninet Tayeb. Nach ihrem Gastauftritt auf dem Album begleitet sie die Band um die neuen Mitglieder Dave Kilminster an der Gitarre und Craig Blundell am Schlagzeug auch während der aktuellen Live-Shows.

Ihre beiden Auftritte bei den Longtracks "Routine", laut Wilsons eigener Aussage einer seiner persönlichen Favoriten, sowie "Ancestral" zählen dann auch zu den Höhepunkten des ersten Sets. Mit ihrer Stimme und Bühnenpräsenz liefert die in ihrem Heimatland berühmte Tayeb zudem ein passendes Gegenstück zum charismatischen und während seiner kurzen Ansprachen an das Publikum durchaus mit Esprit glänzenden Chef der Gruppe.

Trotz Klasse keine Egomanie

Bei einem Progressive Rock-Album wie "Hand. Cannot. Erase." dürfen rhythmisch vertrackte Passagen, Tempo- und Dynamikwechsel standesgemäß natürlich nicht fehlen. Oft mutieren die dadurch entstehenden Soloeinlagen zu reinem Selbstzweck – nicht so an diesem Abend. Ebenso wie auf dem Album integrieren sie sich harmonisch und songdienlich in das Gesamtbild.

Aus genau diesen Gründen wurde "Hand. Cannot. Erase." völlig zurecht von zahlreichen Kritikern als Wilsons bislang bestes Soloalbum gefeiert und fand auch entsprechende Anerkennung unter den Plattenkäufern. Gleichermaßen fällt auch die Resonanz des Frankfurter Publikums auf die großartige Live-Umsetzung der Scheibe an diesem Abend aus. Mit tosendem Applaus verabschieden die Zuschauer die Band nach Ende des 1. Sets in die wohlverdiente kurze Verschnaufpause.

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Bunte Mischung

Frisch erholt melden sich Wilson und seine Mitstreiter dann zurück, um Altes und noch Unbekanntes zum Besten zu geben. Das zweite Set startet mit dem alles andere als kommerziellen, schaurigen "Drag Ropes" vom Storm Corrosion-Debüt. Bekannter und umjubelter ist der anschließende Porcupine Tree-Klassiker "Open Car", dessen härtere Stellen zum Bratzigsten gehören dürften, das die Alte Oper in ihrer langen Geschichte je erlebt hat.

Wilson und seine Mannen mischen im zweiten Teil munter weiter Material seiner verschiedenen Projekte. Stücke vom Ende der Woche erscheinenden Minialbum "4½" wechseln sich mit Glanzpunkten vergangener Zeiten. Auf das brandneue "Book Of Regrets" folgen "Index" von seiner zweiten Solo-LP "Grace For Drowning" und die ruhige wie rührende Porcupine Tree-Nummer "Lazarus", die Wilson seinem gerade erst verstorbenen musikalischen Helden David Bowie widmet.

Die Schönheit der Melancholie

Überhaupt vermittelt die Musik trotz eisiger Temperaturen außerhalb der Alten Oper herbstliche Nachdenklichkeit und Wehmut. Dazu passt auch das zusammen mit Ninet Tayeb neu aufgenommene "Don’t Hate Me", das eben diese Jahreszeit auch mithilfe von Videoeinspielungen visuell thematisiert. Im Anschluss verstecken sich Steven Wilson und Co. beim Instrumental "Vermillioncore" im wahrsten Sinne des Wortes hinter einem transparenten Schleier, der fortan die Bühne einhüllt.

Teilweise entsteht diese bedrückende, trübsinnige Atmosphäre auch durch die Lichteffekte, die der Brite für seine aktuellen Konzerte ausgewählt hat. Primär sind es kalte Farben, mit denen er seine thematisch oftmals etwas düsteren Songs optisch umsetzen lässt. Die Scheinwerfer erhellen die Bühne meistens in blau, türkis und violett. Sofern sich einmal rot oder gelb einschleichen, werden sie, wie im Fall von "Vermillioncore", fast immer sofort mit einem kühleren Gegenstück kontrastiert.

Ekstatischer Schlussspurt

Der durchsichtige Vorhang bleibt auch für den Abschluss des regulären Sets hängen. Mit dem geradezu hypnotischen "Sleep Together", seinerzeit bereits eines der Highlights auf "Fear Of A Blank Planet", versetzen Steven Wilson und seine Combo ihr Publikum in eine regelrechte Trance. Die Zuschauer verharren gebannt auf ihren Plätzen, während der Große Saal durch die Vibrationen der Boxen heftig erschüttert wird und die Musiker ihnen zu einem ohrenbetäubenden Orgasmus verhelfen.

Am Ende lässt die Reaktion nicht lange auf sich warten. Es ist wenig verwunderlich, dass die Band minutenlang stehende Ovationen erhält, als sie sich kurzzeitig erneut von der Bühne verabschiedet. Zu gut war die Leistung der Beteiligten bis zu diesem Zeitpunkt, um sie nicht gebührend zu feiern. Für Fans der progressiven, experimentellen Rockmusik ist es bislang ein rundum gelungener Abend in einem gediegenen, etwas ungewohnten, dem Anlass aber durchaus angemessenen Ambiente.

Gelungenes Gesamtpaket

Für einen Großteil der grandiosen Stimmung ist Steven Wilson höchstpersönlich verantwortlich. Wilson zeigt sich als humorvoller Gastgeber, der sich auch über sich selbst lustig macht, wenn er beispielsweise die Einstellungen seiner Effektgeräte korrigieren muss, während er sich mit den Fans unterhält. Später kann er sich den einen oder anderen Seitenhieb auf das seiner Meinung nach enttäuschende Münchener Publikum eine knappe Woche zuvor nicht verkneifen.

Die Zugaben bilden eine wunderschöne und herzzerreißende Version von David Bowies legendärem "Space Oddity", bei dem Wilson seinem Idol einmal mehr Tribut zollt, sowie das Porcupine Tree-Stück mit dem womöglich größten Ohrwurmcharakter, "The Sound Of Muzak". Die Zuschauer honorieren einmal mehr die Leistung der Band, als sie sich dann tatsächlich endgültig von der Bühne verabschiedet.

Der gerechte Lohn inmitten der Krise

Nach vielen Jahren fantastischer Alben und Konzerte sieht es mittlerweile so aus, als sei Steven Wilson dank seines jüngsten Albums endlich bei einem etwas größeren Publikum angekommen. Verdient hat er es allemal, dass sich nicht nur eingefleischte Prog-Fans mit ihm befassen, obwohl seine Ideen und deren Umsetzung grundsätzlich alles andere als massenkompatibel sind. Hallen wie den Großen Saal der Alten Oper füllt der schlaksige Engländer im ABBA T-Shirt mittlerweile aber recht problemlos.

Eigentlich ist Wilsons melancholische Musik ja geradezu prädestiniert für kühle, regnerische und triste Herbsttage. Angesichts der chaotischen Zustände und der momentanen Kälte in Deutschland könnte sie aber derzeit kaum passender sein – besonders in solch düsteren Zeiten, in denen beinahe wöchentlich legendäre Musiker von uns gehen. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser beinahe makellose Abend in Form eines Konzertmitschnitts für die Nachwelt festgehalten wird.

Setlist

First Regret / 3 Years Older / Hand. Cannot. Erase. / Perfect Life / Routine (mit Ninet Tayeb) / Home Invasion / Regret #9 / Transience / Ancestral (mit Ninet Tayeb) / Happy Returns / Ascendant Here On… // Drag Ropes / Open Car / My Book Of Regrets / Index / Lazarus / Don’t Hate Me (mit Ninet Tayeb) / Vermillioncore / Sleep Together // Space Oddity (mit Ninet Tayeb) / The Sound Of Muzak

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