Das A Summer's Tale Festival ist seit drei Tagen im Gange, da breitet sich ein Gerücht wie ein Lauffeuer aus: Vincent Vegan ist auf dem Gelände gesichtet worden. Schöner könnte sich die Prioritäten-Verschiebung bei den Besuchern eines Rockfestivals anno 2015 nicht zeigen. Denn bei dem an eine Tarantino-Figur angelehnten Kunstnamen handelt es sich nicht um einen angesagten House-DJ, sondern um einen Food-Truck mit ausschließlich vegetarischer Küche.

Die erste Ausgabe von A Summer's Tale möchte ein Festival etablieren, das neben Musik und Kultur auch Genuss und Komfort bietet. So gibt es neben internationalen Acts aus Indie, Folk und Pop auch Lesungen, Kinderprogramme, Workshops und Yoga-Sessions. Ein neuartiges Festival für Menschen zwischen 25 und 45, die nicht mehr mit zehntausenden anderen um einen Platz in Bühnennähe ringen und von Campingplatz bis Konzertgelände halb so lange laufen möchten, wie ein Konzert dauert.

Steinpilz-Risotto statt Ravioli

So finden sich in der Wald- und Wiesen-Idylle eines Reitsportgeländes in der Lüneburger Heide statt grölender Abiturienten viele Familien mit Kindern neben friedlich feiernden Endzwanzigern ein. Ein solches Publikum legt selbstredend Wert auf eine anständige kulinarische Versorgung. Ravioli war vorgestern, Fast Food gibt es hier nicht. Das wird spätestens beim Schlangestehen klar. Wer einen der preisgekrönten Lachs-Döner probieren möchte, muss dafür Wartezeiten bis zu anderthalb Stunden in Kauf nehmen.

Beim A Summer's Tale gönnt man sich zwischendurch eine Bio-Wildschwein-Bratwurst, besucht anschließend einen Sommelier-Workshop und bucht für den Abend das Drei-Gänge-Menü im "Summer's Cuisine"-Zelt. Hauptgang: Steinpilz-Kräuter-Risotto.

Ach, und Musik gibt es ja auch noch. Wer so versorgt auf der karibisch anmutenden Sandfläche vor der Hauptbühne noch mit den Zehen wippen möchte, kann einige ausgezeichnete Konzerte sehen.

Disco-Funk mit Waschanlagen-Bürsten

Den Anfang macht am warmen Mittwochabend Róisín Murphy. Die ehemalige Frontfrau von Moloko ist nach längerer Auszeit wieder auf Tour und gibt sich von der ersten Sekunde an alle Mühe, Stimmung in das eher mäßig gefüllte Reitgelände zu bringen. Ihre fünfköpfige Band spielt dreckigen Disco-Funk mit House-Elementen, die Gitarristen streuen etwas stumpfe Rock-Gitarren-Riffs ein, dürfen sich aber auch an ungezügelt an Mini-Keyboards austoben. Moloko-Hits wie "Familiar Feeling" und "The Time is Now" werden nur kurz angedeutet, der Fokus liegt hier eindeutig auf der Sängerin. Die Irin wechselt ihr Kostüm nach jedem Song, und manchmal auch währenddessen.

"Die ist wie Madonna auf LSD", raunt mein Begleiter und in der Tat macht sich Róisín Murphy mit ihren furchteinflößenden Masken, der tragbaren Riesen-Vagina und den schrägen Tanzeinlagen eher über gängige Pop-Bühnenshow-Klischees lustig, als sie zu adaptieren. Wer außer ihr könnte schon einen puscheligen Afro-Anzug tragen, der aussieht, als sei er aus liegengebliebenen Waschanlagen-Bürsten gefertigt worden? Großartige Unterhaltung.

It's the singer, not the song

"It's the singer, not the song", dieses Motto gilt auch für Patti Smith. Die Punk-Ikone ist die wohl charismatischste noch lebende Rock-Sängerin und reißt das auf ca. 7000 Zuschauer angewachsene Publikum am Freitagabend zu Jubelstürmen hin. Ihre Backing-Band leistet allerdings auch nicht viel mehr als eine durchschnittliche Cover-Combo, da hilft es auch nicht, dass Gitarrist Lenny Kaye die New Yorkerin seit ihren Anfängen begleitet.

Die Musiker selbst unterstreichen diesen Eindruck, indem sie den Zugabenteil beinahe ausschließlich mit Coverversionen bestreiten. Sicher, den Who-Gassenhauer "My Generation" spielen sie seit 40 Jahren, aber während des Medleys anlässlich des 50jährigen Gründungsjubiläums von The Velvet Underground wähnt man sich in einer Oldie-Nummernrevue. Patti Smiths Gesten und Ansagen dagegen sind mitreißend und authentisch wie in den 70er Jahren: sie erinnert an allzu früh verstorbene Rockstars und ruft zum Widerstand gegen korrupte Politiker und Wirtschaftskonzerne auf.

Im zweiten Teil: Sophie Hunger, Damien Rice, Songhoy Blues, die Grenzen des Wachstums und weshalb ein entzerrter Spielplan nicht nur Vorteile hat.

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Generationswechsel

Null Prozent Muckertum und null Prozent Coverversionen dagegen bei Sophie Hunger. Die Schweizer Sängerin und Gitarristin kann es an Ausstrahlung durchaus mit Ms. Smith aufnehmen. Ihre vierköpfige Band besteht aus exzellenten Musikern, die die vielschichtigen Pop-Songs ihres neuen Albums "Supermoon" mit Klaviertupfern, bedächtigem Glockenspiel und bei Bedarf auch donnernden Rock-Sounds ausmalen.

Nach soviel Rock'n'Roll ist Zeit für Entspannung. Das höchst geschmackvoll angelegte Gelände bietet neben den drei Konzertbühnen auch ein Festivalatelier, indem Bierbrau-Workshops stattfinden und Traumfänger gebastelt werden. Auf dem sonnigen "Luhedeck" finden Yoga-Kurse statt, die ebenso schnell ausgebucht sind wie die Kanutouren auf dem nahegelegenen Flüsschen Luhe. Schnell stellen sich Urlaubsgefühle ein: wo einem bei anderen Festivals gegen 16 Uhr erste Alkoholleichen vor die Füße fallen, ziehen beim Summer's Tale höchstens gut gelaunte Kleinkinder am Rockzipfel.

Entspannt ist auch das entzerrte Programm, das Acts auf vier Tage verteilt, die bei anderen Festivals an zwei auftreten würden. Selten finden Konzerte parallel statt. Eine Programmierung, die auch ihre Nachteile hat: wer mit dem aalglatten Jazz-Pop der französischen Sängerin Zaz nicht viel anfangen kann, hat kaum Alternativen.

Hypnotische Grooves aus Mali

Für Songhoy Blues ist es eine Premiere: die vier Musiker aus Mali sind zum ersten Mal auf Deutschland-Tour. Sänger Aliou Touré springt mit spinnenartigen Bewegungen über die Bühne im von der Sonne erhitzten Zelt, lässt mit breitem Grinsen die schmalen Glieder zappeln und gibt sich ganz den hypnotischen Grooves seiner Band hin.

Die Musik des Quartetts wird als Desert Blues bezeichnet, doch sind sie mehr noch als ähnlich geartete Bands wie Tinariwen im westlichen Blues und Rock verwurzelt. Gitarrist Garba Touré kennt sichtlich sämtliche Aufnahmen von Jimi Hendrix und John Lee Hooker auswendig, und kombiniert solche Einflüsse mit afrikanischen Legenden wie Ali Farka Touré. Ein fantastisches, ekstatisches Konzert mit einer Band, die pure Freude an der Musik ausstrahlt.

Hohe Konzertqualität

Durchweg ist die Qualität der Konzerte hoch. Damien Rice widerlegt am Donnerstag alle Zuschauer, die ein tieftrauriges Solokonzert eines einsamen Mannes mit Akustikgitarre erwartet hatten. Mit verzerrten Vocals und Fuzz-Gitarre spielt er neben empfindsamen Balladen erstaunlich rockige Blues-Songs und wächst mit seiner Loop Station zu einem Ein-Mann-Orchester heran. In "Volcano" sorgt er für Gänsehaut, indem er mehrstimmige Gesänge des Publikums dirigiert.

Weitere Höhepunkte: Tori Amos, die, gewohnt exzentrisch in hochhackigen Schuhen und rotem Zaubererumhang, das Publikum nicht ohne "Cornflake Girl" in die Nacht entlässt oder die wiedervereinigten englischen Shoegazer von Ride, die im Zelt ein großartiges Gitarren-Inferno entfachen.

Wachstum? Bitte mit Grenzen

Zum Abschluss geht es in ein Birkenwäldchen im östlichen Teil des Geländes. Hier legt DJ Svolanski seinen extrem tanzbaren Mix aus Drum'n'Bass, Soul, Funk, Reggae und HipHop auf. Mit dutzenden metallenen Vögeln, Spots und Discokugeln in den Bäumen ist die Waldbühne die schönste der drei Bühnen.

Für die nächsten fünf Jahre haben die Festivalmacher sich den Standort Luhmühlen gesichert. Man wünscht ihnen gerne ein wachsendes Publikum. Aber bitte im Rahmen: wenn wirklich einmal 25.000 Besucher kommen, wie vom Konzertveranstalter FKP Scorpio angepeilt, dann wird von dem entspannten Waldidyllfestival der kurzen Wege nicht mehr viel übrig sein.

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