Längst ist Ian Anderson selbst zum Arbeitspferd geworden, dem er im majestätischen "Heavy Horses" 1978 ein Denkmal gesetzt hat. Seit 1968 beackert er Jahr für Jahr die Bühnen dieses Landes.

Es muss an der beharrlichen Mentalität und an den vielen lieb gewonnen Manierismen des Meisters liegen, dass das deutsche Publikum ihm auch nach 47 Jahren immer noch in mittelgroße Hallen oder, wie an diesem Abend, in das altehrwürdige Gebäude der Alten Frankfurter Oper folgt.

Eine lange Tradition

Anderson steht für musikalische Qualität, Haltung und Beständigkeit. Fast schon deutsche Tugenden jedoch gepaart mit britischem Biss und Humor, wie zahlreiche Einspieler auf der Videoleinwand auch an diesem Abend immer wieder belegen. Zu Beginn sieht man z.B. Anderson in Stummfilmästhetik, wie er als alter Widerborst im Krankenbett an "Homo Erraticus" schreibt. Herrlich reaktionär!

Nach dem Hin- und Her der letzten 13 Monate zwischen rastlosen Best-Of Tourneen und Orchesteraufführungen steht an diesem Abend nochmal die fortgeführte Promotion zum letztjährigen Album "Homo Erraticus" im Fokus. Ergänzt durch "The Very Best of Jethro Tull". Im Klapptext zur aktuellen Platte hat Anderson eigentlich dem alten Bandnamen abgeschworen, um nun doch wieder bei jeder Gelegenheit mit ihm als Zusatz zu kokettieren. Nach dem kommerziellen Erfolg der "Thick As A Brick"-Fortsetzung im Jahr 2012 erlebt Anderson im Moment so etwas wie einen kreativen Frühling im Herbst seiner Karriere und nimmt wieder vermehrt neue Platten auf.

"Homo Erraticus" live

Ian Anderson entwarf "Homo Erraticus" in kürzester Zeit im Januar 2013 und nahm es mit den aktuellen Begleitmusikern auf. Inhaltlich setzt er sich mit der Geschichte Englands auseinander, zeichnet den technischen Fortschritt der angelsächsischen Bevölkerung in großen Linien nach und wirft sogar einen Blick in die Zukunft. Musikalisch bietet die neue Platten extrem progressiven und komplexen Rock, wie man bei der Liveaufführung feststellen kann. Gleich mit "Doggerland" zeigt die aktuelle Besetzung die typischen Jethro Tull Trademarks eines klassischen Uptempo-Openers mit markantem Flötenlauf von Anderson.

Vom folgenden, komplexen "Homo Erraticus" weiß vor allem "The Browning Of The Green" zu überzeugen, das gekonnt mit elektronischen "A"-Elementen aus dem Jahr 1980 spielt. Aber auch "Enter The Uninvited" und "Puer Ferox Adventus" lassen die Herzen der Progfans an diesem Abend höher schlagen. Die Band hat immer noch aberwitzige Melodie- und Tempowechsel auf Lager, die immer wieder von Andersons Flöte befeuert werden.

Sound und Fans

In Frankfurt muss Anderson auf den angestammten Bass-Routinier Dave Goodier verzichten, der durch den jungen Greg Robinson ersetzt wird. Neben der ansonsten etatmäßigen Band mit Scott Hammond am Schlagzeug, John O’Hara an den Tasten und "Out of Rosenheim“ Florian Ophale an der Gitarre, ist auch wieder Ryan O’Donnell mit von der Partie, der Anderson schauspielerisch und gesanglich kongenial unterstützt. Ein cleverer Zug, wie sich nicht erst bei dieser Show herausstellt, denn Andersons markante Gesangsstimme ging bereits bei der sagenumwobenen "Under Wraps“ Tournee 1984 verloren und O’ Donnell fängt diesen Umstand von Tour zu Tour besser auf.

Der Gesamtsound bzw. die Aussteuerung überzeugt im ersten Teil des Konzertes nicht vollumfänglich. Immer wieder wirken die Musiker zu laut und schrill im Vergleich zum Gesang von Anderson und O’Donnell. Dieses Problem bessert sich deutlich im Best Of-Teil. Anderson hat es geschafft, durch die Remix-Zusammenarbeit mit Steven Wilson (Porcupine Tree) auch jüngere Fans progressiver Musik für Jethro Tull‘s Backkatalog zu interessieren. An diesem Abend ist der Altersdurchschnitt aber nahe an Andersons eigenem Alter. Die fast ausverkaufte Alte Oper wird nach einer kleinen Pause Zeuge, wie gut die Tull-Klassiker immer noch und immer wieder funktionieren.

Im zweiten Teil: Ian Anderson im Alter und ein Best Of-Set mit kleinen Überraschungen.

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Der Meister im Alter

Anderson zelebriert auch an diesem Abend seine teilweise über 40 Jahre währenden Gesten. Egal ob er erstaunlich fit auf einem Bein stehend die Flöte spielt, sich wie ein wild schnaubendes Tier am Bühnenrand entlang pirscht oder das Finale von "Aqualung“ mit großen Gesten zum Grande Finale führt. Das lieben seine Anhänger und das wollen sie sitzend noch einmal erleben: Voller Anerkennung applaudieren sie diesem Schrat, der sie alle immer noch in seinem Bann hält als "Minstrel in the gallery“.

Bei seinen Mi(e)tmusikern fällt vor allem auf, dass Scott Hammond das fließende und facettenreiche Spiel eines Barriemore Barlow gekonnt adapiert und Florian Ophale teilweise wirklich wie ein junger Martin Barre inszeniert wird. Seine Gitarre spielt bereits seit 3-4 Jahren eine tragende Rolle in der neu aufgestellten Tull/Anderson Mannschaft.

Teil 2: The Best of Jethro Tull

Trotz des überschäumenden Repertoires der Band konzentriert sich Andersons "Best of Jethro Tull“-Darbietung schon seit Jahren auf die Phase 69-71; als die Gruppe weniger progressiv und eher traditionell dem RnB, Folk und Rock verpflichtet war. Mit "Cross-eyed Mary“, "My God“ und dem Titelsong des 71er Meilensteins "Aqualung“, zeigt Anderson, dass er an Bühnenpräsenz und Power nichts eingebüßt hat. O’Donnell singt weite Teile von Aqualung und er tut es im Stil des jungen Anderson, was eine Art geglückten Generationswechsel symbolisiert. Auch "Nothing Is Easy“, "Bouree“ und das unverwüstliche "Thick As A Brick“ kommen frisch und mit Kraft über die Bühne der Alten Oper.

Anderson kann sich dabei nach Herzenslust bedienen und packt mit "Sweet Dream“ und "Teacher“ zwei Stücke aus dem Jahr 1970 aus, die voller Fantasie, Witz und Raffinesse sind und damals noch als Singles in die Hitparaden kamen. Zu "Sweet Dream“ transferiert die Videoleinwand animierte Auszüge aus dem längst vergessenen "A“ Konzertfilm aus dem Jahr 1981 in das Publikum und schafft damit eine sehr gelungene Ergänzung.

Diesmal mit Überraschungen

Für die Hardcorefans, die ab und an die starre Best-Of Songauswahl des Meisters kritisieren, hat Anderson mit "Critique Oblique“ ein furioses Stück der Passion Play Sessions 1972/73 auf Lager. Es stürmt vorwärts und zeigt im Ansatz, was die frühere Band Jethro Tull in den Siebzigern zu leisten im Stande war. Szenenapplaus!

Egal ob "My God“ oder "Too Old to Rock'n'Roll: Too Young to Die!", das im Jahr 2016 die Remix-Reihe von Wilson fortsetzen wird – es sind Klassiker aus einer Zeit als brillantes musikalisches Handwerk sehr gutes Songwriting nicht ausschloss und Alben noch Substanz für mehr als 2-3 gute Stücke besaßen. Anderson hat zahllose davon im Angebot.

Mit "Locomotive Breath“ nimmt das Ritual seinen Lauf: Alle stehen auf, beklatschen eine furiose, langgezogene Fassung des Evergreens und Anderson entlässt die glücklichen Fans in eine kühle Frankfurter Mainnacht.

Ausblick

Anderson hat bereits das nächste Projekt im Köcher und will im Herbst eine Art Rock-Musical bzw. Ode an Jethro Tull auf die Bühne bringen. Der Namensgeber der Band, ein Agrarwissenschaftler des 18. Jahrhunderts soll dabei als Vehikel für mindestens 5 neue Songs und "actually really a rather weak and pathetic excuse for churning out yet another Best Of Jethro Tull" dienen.

No way to slow down.

Setlist

Homo Erraticus: Doggerland / Enter The Uninvited / Heavy Metals / Puer Ferox Adventus / The Engineer / The Browning Of The Green / Cold Dead Reckoning

The Best of Jethro Tull: Bourée / Thick As A Brick / Nothing Is Easy / Cross-eyed Mary / Sweet Dream / Teacher / Critique Oblique / Too Old to Rock 'n' Roll: Too Young to Die! / My God / Aqualung // Locomotive Breath

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