Jeff Tweedy (Pressebild, 2014)

Jeff Tweedy (Pressebild, 2014) © Highroadtouring

Am Samstagabend traten bei dem Indoor-Festival an der Ostsee die schlecht gelaunten Timber Timbre, die gut aufgelegten Editors im Akustik-Gewand und ein grandioser Jeff Tweedy mit Band auf. Kleine Wermutstropfen waren die Organisation von Spielstätten und -zeiten und die lieblose Licht- und Bühnengestaltung.

Es hat sich was geändert in Live-Musik-Deutschland. Die Begriffe "Komfort" und "Festival" waren bis vor kurzem noch so eng verbandelt wie "sexy" und "Generation 40plus". Doch nun bietet Rock am Ring VIP Campingplätze an, beim Hurricane Festival gibt es einen separaten Bereich mit Handyladeservice und WLAN.

Und der Rolling Stone Weekender wirbt seit 2009 erfolgreich mit dem Slogan "Das Komfortfestival". Das Zelten im schleswig-holsteinischen November entfällt, der Weekender ist ein zweitägiges Indoor-Festival in einem familientauglichen Center Park. Lesungen und Konzerte von mehr als 25 Künstlern sind anberaumt, Apartments, Ferienhäuser und Hotelzimmer nur einen Steinwurf entfernt.

Timber Timbre: apokalyptisch schlecht gelaunt

Der Samstagabend am Weißenhäuser Strand beginnt im Witthüs oberhalb der fake-italienischen Piazza des Ferienparks. Es tritt die kanadische Folkband Timber Timbre auf. Wenn man das noch Folk nennen mag. Das Quartett lässt sich auch als düstere Bluesband mit elvisschem Rockabilly-Feeling lesen. Im kleinen Witthüs herrscht Abbruchstimmung, die Location wird zu einem Restaurant umgebaut und zeigt freiliegende Betonfundamente.

Kein schlechter Ort für das, was Timber Timbre da beinahe komplett in Dunkelheit gehüllt spielen, bisweilen ist es eine Art apokalyptischer New Orleans Soul. Leider hat Sänger Taylor Kirk auch apokalyptisch schlechte Laune. Es herrscht Fotografierverbot, was ein älteres Ehepaar in der ersten Reihe nicht mitbekommen hat und deshalb Kirks Beschimpfungen über sich ergehen lassen muss. Das Konzert steht kurz vor dem Abbruch, aber Kirk belässt es dann nur bei dem Verzicht auf eine Zugabe. Schade, denn der Mann zeigt mit Songs wie "Hot Dreams" große Songwriting-Kunst, die er mit seiner grandiosen Baritonstimme veredelt.

Tweedy, nicht Jeff Tweedy

Direkt gegenüber dem Eingang zum Spaßbad im Baltic Festsaal tritt glücklicherweise kurz darauf die Band Tweedy auf, vom Festival fälschlicherweise als "Jeff Tweedy" angekündigt. Denn das hier ist kein Soloset des als Frontmann von Wilco zu Bekanntheit gekommenen Jeff Tweedy, sondern ein Konzert mit fünfköpfiger Band. Der Sänger würde es womöglich auch als Abend mit Familie und Freunden bezeichnen. An den Drums sitzt sein 18jähriger Sohn Spencer, an der Gitarre dessen Kumpel Jim Elkington und den Bass besetzt Tweedys alter Musikerfreund Darin Gray.

Die Gruppe lässt es entspannter angehen als die Folk-Progrock-Indie-Lieblinge von Wilco, darüber kann auch der punkige Opener "Please Don't Let Me Be So Understood" nicht hinwegtäuschen. Vor kurzem haben Tweedy und Sohn "Sukirae" veröffentlicht, eine formidable Sammlung leiser bis freundlich groovender Folksongs, die mehr als die Hälfte des Konzertes ausfüllen.

Mit feuchten Augen

Dann schickt Jeff Tweedy die Mitmusiker von der Bühne und beweist seine ganze Klasse in einem viel zu kurzen Solo-Set. "I Am Trying to Break Your Heart" funktioniert fabelhaft in der entschlackten Variante, und selbst "Spiders (Kidsmoke)", auf Platte ein krautrockartig ausfransender Song, ergibt akustisch Sinn. "Hummingbird" von Wilcos Jahrhundertalbum "A Ghost is Born" ist herzerwärmend wie immer, auch wenn das Weekender-Publikum nicht so recht mitsingen will.

Das Konzert endet mit der zurückgekehrten Band und dem sehnsuchtsvollen "California Stars". So mancher Mittvierziger bekommt feuchte Augen, vollkommen zu Recht, denn auch 16 Jahre nach der Studioaufnahme mit Billy Bragg performt Tweedy den Song mit Inbrunst. Der Mann aus Chicago bleibt ein Ausnahmesongwriter, der selbst einem vergleichsweise routinierten Festivalset Magie verleihen kann. Dem kann auch der Pausenhallencharme des Baltic Festsaals nichts anhaben. Wirklich unglücklich ist allerdings die Lichtgestaltung, die nur eine einzige, grelle Einstellung kennt, und die lieblose Bühnendeko mit notdürftig ausgeschnippelten Weekender-Logos.

Im zweiten Teil: Warum Live eine Zumutung sind, warum bei The Felice Brothers kein Durchkommen ist und warum die Editors akustisch auftreten.

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Live: eine Zumutung

Nur im großen Sechs-Master-Zelt draußen vor der Anlage ist so richtig Festivalstimmung drin. Aber dann müsste da auch jemand auftreten, der sie erzeugen kann. Die amerikanische Alternative-Band Live jedenfalls kann es nicht. Es gehört sich nicht, über Bands zu schreiben, von denen man nur zweieinhalb Songs gehört hat.

Aber: was Live da machen ist eine Zumutung. Chris Shinn, Nachfolger des langjährigen Sängers Ed Kowalczyk, scheint seine Sache nicht ganz schlecht zu machen, aber es hilft nichts: seine Mitmusiker spielen billigsten Klischee-Emo-Rock. Es ist aus künstlerischer Sicht schon unverständlich, eine Band überhaupt einzuladen, die seit 15 Jahren nichts nennenswertes mehr veröffentlicht hat, aber warum man eine solche Truppe dann auch noch zur Primetime um 21 Uhr auftreten lässt, ist ein Rätsel.

Andrew Belle: zwischen Bon Iver und Coldplay

Vielleicht hätte man die große Bühne lieber der New Yorker Americana/Folk-Band The Felice Brothers überlassen sollen. Schon 15 Minuten vor ihrem Auftritt im viel zu kleinen Rondell zieht sich eine mehr als 50 Meter lange Schlange über den Minigolfplatz. Kein Reinkommen. Im angenehm beheizten Witthüs der kalten Weißenhäuser Nacht kann man hingegen dem Soloauftritt von Singer/Songwriter Andrew Belle lauschen.

Der sympathische junge Mann aus Illinois singt zu wabernden Keyboard-Sounds hübsch im Falsett und klingt dabei ein bisschen nach Bon Iver und ein bisschen stärker nach Coldplay. Kein Wunder, dass Belles Songs in amerikanischen TV-Serien rauf und runter gespielt werden. Was seine Musik nicht schlechter macht. Von Andrew Belle wird man sicher noch hören.

Akustisches von den Editors

Bei der Gestaltung des verbleibenden Abends gibt einem das Bookingteam wenig Möglichkeiten. Bereits um Mitternacht ist das Programm auf allen drei kleinen Bühnen beendet, nur im Zelt ist noch Licht: Editors beschließen das Festival. Zum Glück macht es die Band allen leicht, die mit ihrem Synthie-Post-Punk sonst wenig anfangen können: die Editors spielen ein Akustik-Set.

Es ist eine aus der Not heraus geborene Premiere für die englische Band, die schon absagen wollte, weil Gitarrist Justin Lockey strengste Bettruhe verordnet bekam. So spielen sie zu viert ein Set, das Sänger Tom Smith eigentlich auch alleine hinbekommen hätte. Denn dessen kräftige Stimme und seine Akustikgitarre tragen in der abgespeckten Version sogar Radiohits wie "Munich", die anderen drei fügen lediglich einige gefällige Keyboard- bzw. Percussion-Koloraturen hinzu.

Smith ist der uneingeschränkte Star dieser Show, und auch ein paar kleine Text- und Soundprobleme können nichts daran ändern, dass der Mann eine Bühnenpräsenz und eine Dringlichkeit in der Stimme hat, die dank des folklastigeren Sounds ausnahmsweise einmal nicht an Ian Curtis oder Morrissey erinnern, sondern an Bruce Springsteen. Und wirklich, die vier covern als Zugabe noch den Boss: "Dancing in The Dark".

Ein Festival der Gemütlichkeit

Die Begriffe "sexy" und "Generation 40plus" sind beim Rolling Stone Weekender nicht zusammengekommen. Aber warum auch: der Weekender hat es nicht nötig, sexy zu sein, er ist ein Gemütlichkeitsfestival.  Bei dem vielleicht nicht ganz so viel Stimmung aufkommt wie bei jüngeren Rock-Open-Airs. Dafür hat man stets genug Platz um sich herum und niemand schwappt einem Bier in den Kragen. Der Sound an allen Spielstätten ist im Übrigen exzellent. Und musikalisch war der Jahrgang 2014 über jeden Zweifel erhaben.

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