"Jetzt bin ich drin", flüstert der Kollege und grinst. Es kann schon mal 20 Minuten dauern, bis sich einem das zuweilen abstrakte Pianospiel von Julia Kadel erschließt. Gemeinsam mit ihrem Trio eröffnet die Berlinerin das Überjazz Festival am Freitagabend. Kadel verfügt aber genauso über ein wunderbar perlendes Pianospiel, das die verschiedensten Koloraturen erlaubt. 

Ihr Jazz kann melancholische Pop-Strukturen genauso annehmen wie Anleihen aus der Klassik. Selten hat man eine so perfekt eingespielte Band gesehen. Schlagzeuger Steffen Roth ist so tief in der Musik versunken, dass man ihn bei entrückten Verrenkungen und Grimassen beobachten kann.

Julia Kadel für Blue Note

Das Überjazz Festival erlebt 2014 sein fünftes Jahr. Das "über" war und ist hier stilprägend, findet sich doch keine einzige Band in den Hallen der ehemaligen Maschinenfabrik Kampnagel, die Modern Jazz nach Schema F macht. Stets geht der Sound über den Jazz hinaus, driftet mal in Richtung HipHop und RnB, mäandert mal in elektronische Gefilde. Platz ist außerdem für Afrobeat, Funk, New Orleans Brass und Experimentelles.

Julia Kadel gehört da noch zu den traditioneller orientierten Acts. Ihr Trio ist eines der neusten Signings auf dem Label Blue Note, das 2014 sein 75jähriges Bestehen feiert. Aus diesem Anlass hat Kampnagel den Künstlern des legendären Labels zwei Abende lang seine größte Halle K6 freigemacht.

Akinmusire: Jeder für sich allein

Ambrose Akinmusire folgt am Freitag auf Kadel, doch bei seinem Auftritt passt nicht viel zusammen. Der Trompeter mit den nigerianischen Wurzeln ist hochtalentiert, und das Zusammenspiel mit Saxophonist Walter Smith III hält einige faszinierende Augenblicke bereit. Aber die Chemie zwischen den Musikern stimmt nicht, jeder scheint für sich allein zu spielen.

Zuvorderst das bedauernswerte Ensemble Resonanz. Das klassische Streichquartett hat international einen hervorragenden Ruf und trat erst kürzlich mit dem Dub/Electro-Künstler Nicolas Jaar in der Laeiszhalle auf. Doch für den Überjazz Gig ist ihnen offensichtlich kaum Probezeit mit Akinmusire eingeräumt worden. Anders ist es nicht zu erklären, dass die groß angekündigten Gäste bei nur zwei Stücken mitwirken dürfen. Die Songs wirken wie Fremdkörper zwischen Akinmusires spirituell angehauchtem Post-Bop, und bei einem davon wirkt nicht einmal der Trompeter selbst mit.

GoGo Penguin: umjubelt

Umjubelt ist dagegen das Konzert von GoGo Penguin in der Halle K2 gegenüber. Das Klavier-Trio aus Manchester hat wenig Neues zu bieten, orientiert sich ihr Sound doch am erfolgreich erprobten Pop-Jazz eines Brad Mehldau oder Esbjörn Svensson.

Doch der Sound der Band ist so brillant, Drummer Rob Turner so virtuos und die Melodien von Pianist Chris Illingworth so eingängig, dass es das Publikum bald zu Beifallsstürmen hinreißt. Genau wie ihre Landsmänner von Radiohead, die hörbar Pate bei der Komposition ihres neuen Albums "V2.0" standen, werden GoGo Penguin mit Sicherheit bald größere Säle füllen.

Robert Glasper: ausgedehnte Jams

Hauptact am Freitagabend ist Robert Glasper. Der aus Texas stammende Pianist bringt sein Robert Glasper Experiment mit in die Stadt, mit dem er in den vergangenen Jahren zwei deutlich RnB-lastige, wenn auch erfolgreiche Alben veröffentlicht hat.

Was auf Platte ein zuweilen seichtes Geplänkel mit sporadischen Jazz-Momenten ist, wird live ordentlich ausgejammt. Drummer Mark Colenburg und Bassist Derrick Hodge legen eine solide Groove-Grundlage, Saxophonist und Sänger Casey Benjamin kann dagegen nur mit seiner Frisur überzeugen. Sein Autotune-Gesang hat hohes Nerv-Potential, da hilft auch kein "Get Lucky"-Cover.

Im zweiten Teil: Takuya Kuroda, Bohren & der Club of Gore, Drumhedz, Jacques Palminger & 440Hz Trio, Ebo Taylor und die Frage: Ist das noch Jazz?

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Hochkaräter simultan

Der Samstagabend beginnt mit drei hochkarätigen Acts gleichzeitig. Takuya Kuroda macht den Anfang in der K6. Sein von Sänger Jose James produziertes Album "Rising Son" gehört zu den besten Jazz-Veröffentlichungen des Jahres 2014, ein lässig groovender Mix aus Jazz, RnB und HipHop.

Auch die Live-Performance des Trompeters hat genug Kopfnickerpotential bei gleichzeitiger Jazz-Virtuosität. Jose James, der nur zwei Stunden später auftreten wird, ist leider noch indisponiert. So übernimmt der leidlich talentierte Posaunist Corey King den Gesangspart in "Everybody Loves the Sunshine".

Irritierend und großartig

Nebenan in der K2 wähnt man sich dagegen am Londoner Themseufer zu Zeiten Jack the Rippers. Die gesamte K2-Halle ist in dichten Nebel getaucht, die Bühne nur beleuchtet von wenigen Spots direkt über den Musikern. Bohren & der Club of Gore spielen ihren ultralangsamen Doom-Metal-Jazz. Sie seien es gar nicht gewohnt, so früh aufzutreten, scherzen die vier, aber so seien sie immerhin rechtzeitig zum Sportstudio wieder zuhause. Ihre Musik ist der perfekt einlullende Late-Night-Soundtrack, aber um diese Uhrzeit hat man Lust, sich zu bewegen.

Also auf zu Hailu Merga. Der Äthiopier tritt im Trio auf. Seine australische Band traf er in Berlin. Drummer Tony Buck spielt einen wunderbar monotonen Beat, der Kontrabass von Mike Majkowski schnurrt dazu. Merga selbst kreiert seinen schrägen Ethio-Jazz Sound mit Melodica, Ziehharmonika und Fender Rhodes. Auf irritierende Art und Weise großartig.

Der gefährliche Drummer

Der warme Klang des Rhodes-Pianos scheint der Sound des Festivals zu sein. In Robert Glaspers Set kommt es genauso vor wie bei Takuya Kuroda und Chris Dave & the Drumhedz. Das Hamburger Publikum darf sich glücklich schätzen, den "most dangerous drummer in the world" überhaupt erleben zu dürfen. Der Amerikaner Chris Dave wurde nämlich von seinem Management am Samstagvormittag in den Zug nach Hamm/Westfalen gesetzt. Hamburg an der Elbe erreichte er dann aber doch noch, das Programm der Hauptbühne beginnt lediglich mit 30 Minuten Verspätung.

Daves Drumhedz spielen einen Highspeed-Fusionjazz, der in seinen besten Momenten an Miles Davis' "Bitches Brew", ein Meisterwerk des frühen Electric Jazz, erinnert. Das extrovertierte Drumming Daves mit den schlangenförmigen Becken, die Hammondeskapaden seines Keyboarders, das avantgardistische Spiel des Bassisten – all das könnte in egoistischen Angebereien ausarten, aber die Band findet stets den Weg zurück zum Song.

Ernsthaft mit Augenzwinkern

Jacques Palminger und sein zum Quintett erweitertes 440Hz Trio finden kurz danach den Weg auf die Bühne des K2. Jazz und Lyrik haben sie sich offiziell verschrieben. Tatsächlich ist eine gehörige Portion Dadaismus dabei, wenn das Studio-Braun-Mitglied von seinem neuen Sponsor "Nordblei" schwärmt und die Geschichte vom hustenden Pinguin erzählt. Ernsthafter Jazz ist es trotzdem, nicht zuletzt dank Keyboarder Richard von der Schulenburg, ehemals Mitglied bei Die Sterne.

In der kleinsten Halle Kmh trumpft derweil Ebo Taylor mit seiner achtköpfigen Band auf. Die Musik des beinahe 80jährigen Ghanaers ist unwiderstehlich tanzbar. Das Publikum hat er nach kürzester Zeit auf seiner Seite, nicht zuletzt dank seiner charmant trippelnden Tanzschritte. Seine deutsch-ghanaische Band feuert indessen von scharfen Bläsersätzen befeuerte Afrobeat-Funk-Riffs ab.

Ist das noch Jazz? Vermutlich schon. Aufregende, irritierende, schöne Musik ist es in jedem Fall, wie fast alles beim Überjazz Festival.

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