Atomic (Pressefoto, 2014)

Atomic (Pressefoto, 2014) © Atomic

Wer sich am Sonntagabend mit etwas anderem beschäftigen wollte als der allwöchentlichen "Tatort"-Langeweile, der konnte sich nach Heidelberg aufmachen, um die skandinavische Jazz-Band Atomic zu erleben. Die wenigsten Zuschauer dürften ihr Kommen bereut haben.

Die Welt von Atomic hat sich kürzlich entscheidend verändert. Der langjährige Schlagzeuger Paal Nilssen-Love verließ die Band im Frühjahr. Die verbliebenden Mitglieder beschlossen nicht etwa ihre Auflösung, die wohl zeitweise im Raum stand, sondern verpflichteten den jungen Schlagzeuger Hans Hulbækmo als Nachfolger.

Und Hulbækmo erweist sich bei ihrem Auftritt im Heidelberger Karlstorbahnhof im Rahmen von Enjoy Jazz als heimlicher Star des Abends. Wild wirbelt er hinter dem tiefergelegten Schlagzeug, verzieht das Gesicht zu irrsinnigen Grimassen, wirft den Kopf nach hinten und reißt den Mund weit auf, wenn er nicht gerade Drumsticks zwischen den Zähnen hat – was erstaunlich oft vorkommt.

Ein Schaffner sorgt für Ärger

Hulbækmos unbändige Energie, aber auch seine Präzision und sein Rhythmusgefühl treibt die Band aus der anfänglichen Unsicherheit, die vielleicht noch auf die hektische Anreise zurückzuführen ist. Am Frankfurter Hauptbahnhof verweigerte ein bösartiger Schaffner Ingebrigt Håker Flaten die Mitnahme seines Kontrabasses im Zug und rief sogar die Polizei, die sich aber als freundlich erwies. Ein Kleinbus von Enjoy Jazz brachte die Musiker schließlich nach Heidelberg.

Als Saxophonist & Klarinettist Fredrik Ljungkvist von diesem Erlebnis berichtet, ist ihm jedenfalls nicht gerade zum Lachen zumute. Glücklicherweise lässt die Band den berechtigten Ärger bald hinter sich und präsentiert sich als eingespieltes Ensemble, das gekonnt freie Improvisation und melodische Komposition miteinander verbindet.

Ein stetiger Fluss

Atomic geht es nicht darum, die Zuschauer mit Lautstärke zu überwältigen, sondern ihre  rhythmischen und melodischen Fähigkeiten zu benutzen, um die Zuschauer mit ihrer Musik einzunehmen. Sie entwickeln einen einnehmenden Sog, der trotz aller Brüche stetig voranschreitet, da er einer eigenen Logik folgt.

Es gibt sie natürlich: die lauten, mitreißenden Ensemblepartien, aber Atomic bieten auch zahlreiche ruhige Momente, ein Bass-Solo, das fast an John Cales frühe Viola-Experiemente mit The Velvet Underground erinnert, einige feine Klaviermotive von Håvard Wiik, der im Lauf des Abends stetig an Präsenz gewinnt und schließlich das kreativ-virtuose Trompetenspiel von Magnus Broo.

Vielgestaltigkeit und Harmonie

Neunzig Minuten sind die perfekte Länge für ein Free-Jazz-Konzert, das gekonnt einen Mittelweg zwischen Freiheit und Struktur, zwischen kollektivem Spiel und Individualität geht. Die exzellente Balance der Musiker, die Vielgestaltigkeit der Stimmen und ihre gleichzeitige Harmonie machte den Abend im Karlstorbahnhof zu einem Erlebnis.

Das für ein Free-Jazz-Konzert zahlreich erschienene Publikum spendet reichlich Applaus und greift auch bei den zum Verkauf stehenden Platten und CDs zu. Die Band scheint entspannt und zufrieden. Bald geht es für sie weiter in die Schweiz und nach Italien, aber vielleicht schauen sie trotz ihres Erlebnisses mit der Deutschen Bahn mal wieder hierzulande vorbei.

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