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Der lange herbeigesehnte Auftritt von Neutral Milk Hotel im Kölner Gloria Theater gerät zu einem Triumph. Die amerikanischen Indie-Rocker beweisen unter dem Jubel der Zuschauer, dass sie zu neuem Leben erwacht sind. Wer weiß schon, was daraus noch erwachsen wird?

Gerade mal zwei Alben reichten aus, um Neutral Milk Hotel Ende der Neunziger zu einer Indie-Legende zu machen. Dann versank die Gruppe, deren einzigartigen Sound Bandkopf Jeff Magnum selbst einst als Fuzz-Folk bezeichnete, in einem scheinbar ewig anhaltenden Tiefschlaf. Im April vergangenen Jahres kam die erlösende Meldung für alle Fans und Liebhaber: die Band gab ihre Wiedervereinigung für eine Tour mit dem originalen "In The Aeroplane Over The Sea"-Line-Up bekannt.

Eine Fernbeziehung

Über die Hälfte der Zeit, die ich an Lebensjahren zähle, waren Neutral Milk Hotel von der Bildfläche verschwunden. Ich war 1998 nicht dabei, als Jeff Magnum und seine Kollegen vom Elephant 6 Künstlerkollektiv einen Kult um sich schufen, der Bands wie Arcade Fire und Beirut essentiell beeinflusste. Die Intensität von In The Aeroplane Over The Sea, dem Album, in dem Magnum mit durchdringenden Bildern die Geschichte der Anne Frank zu erzählen scheint, kenne ich nur von Platte.

Dementsprechend hatte ich versucht, mir im Vorfeld keine großen Vorstellungen von dem zu machen, was mich erwarten könnte. Immerhin kann eine Reunion-Tour auch schnell mal nach hinten losgehen und ich wollte nicht enttäuscht werden. Sollte ich jedoch auch nicht.

Bunt gemischtes Publikum

Während die Vorgruppe Boogarins aus Brasilien psychedelische Popklänge spielt, füllt sich langsam der Zuschauerraum des alten Theatersaals. Das Publikum könnte kaum wilder zusammengesetzt sein. Einige sehen aus wie Fans der ersten Stunde, viele aber dürften 1998 noch im Grundschulalter gewesen sein. Macht ja nichts.

Als ein scheinbar nach vielen Jahren aus der Wildnis zurückgekehrter Jeff Magnum die Bühne betritt und mit "King of Carrot Flowers" eben den Song anstimmt, der auch das Kult-Album von '98 eröffnet, scheint jeder von derselben kindlichen Aufregung ergriffen zu sein.

Multitalente

Das trifft auch auf Multiinstrumentalist Julian Koster zu, der irgendwie aussieht, als hätte er die Jahre der Pause an einem sehr fernen Ort voller Spiel und Spaß verbracht. Fliegend wechselt er zwischen Banjo, Akkordeon, Bass und diversen Singenden Sägen. Dann verliere ich den Überblick. Könnte allerdings auch daran liegen, dass er sich gleichzeitig unaufhörlich um die eigene Achse dreht.

Doch in Sachen Vielseitigkeit steht ihm auch der Rest der Band in nichts nach: Wenn Scott Spilane nicht gerade in seine Posaune, Trompete oder das Horn bläst, brüllt er mit eben der gleichen Inbrunst jedes einzelne Wort von Jeff Magnums Texten mit, als fürchte er, es könnte ihm erneut für über ein Jahrzehnt verwehrt bleiben.

Jeff Mangum: erst unsichtbar, dann dominant

Obwohl die Person dort in der Ecke der Bühne, hinter all den Haaren, dem Bart und der Truckercap nur zu erahnen bleibt, scheint Mangum spätestens zum Solo von "Two Headed Boy" jeden Zentimeter des Raums für sich einzunehmen und zu füllen.

Neben den "Aeroplane"-Songs kommt auch das erste Album "On Avery Island", unter anderem mit "Gardenhead / Leave Me Alone" und dem von einem krachendem Schlagzeug getragenen "Song Against Sex", nicht zu kurz. Zwischen der nahezu nicht zu überblickenden Fülle an Instrumenten schleicht sich hier und da natürlich auch mal ein Fehler ein, aber das tut der Kraft, die die Band freisetzt keinen Abbruch.

Euphorisiert: Band und Zuschauer

Nach drei Zugaben und nicht enden wollendem Applaus ist dann mit der Non-Album Ballade "Engine" Schluss. Magnum und Co sehen ergriffen aus und ich kaufe es ihnen ab.

Ob ich da nun Zeuge eines großen Comebacks geworden bin, kann und will ich nicht beurteilen. Aber ich gehe mit dem Gefühl nach Hause, etwas Großes gesehen zu haben.

Setlist

The King Of Carrot Flowers Pt. One & Two | Holland 1994 | A Baby For Free | Gardenhead/Leave Me Alone | Everything Is | Two Headed Boy | The Fool | In The Aeroplane Over The Sea | Naomi | Ferris Wheel On Fire | Oh Comely | Song Against Sex | Ruby Bulbs | Ghost | Untitled | Two Headed Boy Part Two | Engine

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