© Cem Yücetas

Sherwood Anderson ist nicht nur einer der einflussreichsten Autoren des amerikanischen Modernismus. Er war als gelernter Werbetexter auch nie um einen griffigen Slogan verlegen. So ließ er auf seinen Grabstein schreiben: "Das Leben, nicht der Tod, ist das große Abenteuer". Was Anderson seinen Friedhofsbesuchern – und vielleicht gerade den besonders eifrigen unter ihnen – sagt, darum geht es auch in Tanja Binders erstem Roman. Obwohl dessen Titel und Stoff anderes nahelegen.

In "Meine Toten" wimmelt es von Verstorbenen. Das allerdings nicht ganz zufällig: Anna Schuster, Protagonistin und Erzählerin, wächst die meiste Zeit bei ihren Großeltern auf, die lange, aber nicht für immer bei ihr bleiben. Da ist Opa Boris, mütterlicherseits, der seine Hypochondrie mit einer täglichen Aspirin "gleich als Prophylaxe am Morgen", reichlich Mentholsalbe und noch mehr Äpfeln kuriert, "so gesund und noch dazu so günstig", wie er sagt.

Zigaretten und Obst

Weisheiten wie diese sind es – neben viel Obst –, mit denen er dem Alltag begegnet. Opa Erich, väterlicherseits, züchtet zwar die schönsten und größten Tomaten, ernährt sich aber wenig gesund – mit Unmengen Apfelmost, vor allem aber zwei Schachteln Zigaretten am Tag.

Mit sechzig verzichtet er von heute auf morgen auf Teer und Nikotin. "Schade nur, dass es anfangs niemand merkte. Erst als Opa nach Tagen der Enthaltsamkeit zornig aus der Haut fuhr …, waren Oma und Anna von seinem neuen Nichtraucherstatus in Kenntnis gesetzt." Trotzdem stirbt Erich Schuster an Lungenkrebs.

Das Leben vor der Nase

Anna Schuster trägt einige weitere Angehörige zu Grabe – und eben hier, ohne sich um den Anlass zu kümmern, drängt sich das Leben auf. So bei der Beerdigung des ständig arbeitslosen und ständig trinkenden Vaters, einer der – komisch, ja! – schönsten Episoden des Buches.

Denn Anna hat ihre erste Brille bekommen: Die Welt kommt näher, zeigt sich in allen Konturen, von den bemoosten Fugen der Friedhofsmauern und dem Zitronenfalter vor ihrer Nase bis zur Maserung des Sarges ihres Vaters.

Unkomplizierte Sprache

Anna Schuster erinnert sich sehr lebendig an ihre Kindheit und an ihr Erwachsenwerden. Kleine Details haben großen Eindruck bei ihr hinterlassen, um genau das, nun wiedererzählt, auch beim Leser zu tun. Tanja Binders Roman rührt an, ist zur gleichen Zeit spannend genug (und mit gut 100 Seiten nicht zu lang), um ihn an einem Stück "wegzulesen".

Dabei hilft die unkomplizierte, aber nie achtlose oder flapsige Sprache genauso so sehr wie der Umstand, dass die Mannheimer Autorin fast gänzlich auf kluge respektive altkluge Kommentare aus der Rückschau verzichtet. Genauso wohltuend vermeidet sie jeden Anflug von Metaphysik.

Das große Abenteuer Leben

Tanja Binder lässt Anna Schuster dort vom Leben erzählen, wo es einzufrieren droht – in einem liegengebliebenen Zug, ohne Heizung, bei klirrend kalter Nacht. Umso mehr leuchtet und tanzt das Leben in ihren Geschichten – ob beim Klettern im höchsten Baum, beim Kampf um Käseschnitten oder beim Flirt mit alten Damen.

Die Rahmenhandlung vermittelt aber auch, was am Tod so unbegreiflich ist und deshalb so verstört, so wütend macht. Vielleicht nämlich, dass das große Abenteuer – gesetzt den Fall, dass es sich nur zusammen mit anderen Menschen erleben lässt – irgendwann einfach so zu Ende ist.

Tanja Binder: Meine Toten. Für € 9.90 (zzgl. Versandkosten) erhältlich bei Books on Demand (www.bod.de) und im Buchhandel.