Der ganz in schwarz gekleidete junge Mann hätte am liebsten jedem Besucher einzeln die Hand geschüttelt. Das ist zumindest der Eindruck, den der ausnehmend höfliche Douglas Dare, Pianist und Sänger aus London, macht. Sein einstündiges Konzert am späten Samstagabend ist gleich in doppelter Hinsicht charakteristisch für das Reeperbahn Festival: es findet in einer ungewöhnlichen Location statt, der historischen Aula des Schulmuseums, und es ist so begehrt, dass nicht alle Interessenten gleich Einlass bekommen.

Glücklicherweise hat sich es beim Hamburger Clubfestival inzwischen herumgesprochen, dass auch Konzerte gänzlich unbekannter Künstler schnell übervoll sein können. So nehmen die Besucher die Wartezeit gelassen auf sich und trinken noch ein Pilsner aus der Festivaledition einer kleinen Hamburger Privatbrauerei.

Erfolg ohne große Namen

Das Reeperbahn Festival hat in seiner achten Ausgabe (→ Fotogalerie bei regioactive.de) nicht nur seine eigene Biersorte bekommen, sondern auch den Status als größtes Clubfestival Deutschlands: 350 Bands in 70 Veranstaltungsorten, fast 30.000 Besucher an vier Tagen und obendrein 3000 Fach- und Medienvertreter beim parallel stattfindenden Branchentreff Reeperbahn Campus – die Zahlen sind beeindruckend.

Noch beeindruckender ist die Tatsache, dass all dies ohne große Namen erreicht wurde. Etablierte Künstler wie James Blunt, Kettcar oder Efterklang sind 2013 die absolute Ausnahme. Inspiriert vom großen Bruder, dem South by Southwest in Austin, Texas, konzentriert man sich auf unbekannte Newcomer und junge Talente, die nicht selten später den internationalen Durchbruch schaffen. In der Vergangenheit so geschehen bei Bon Iver, Boy oder Lykke Li.

Kandidatin für solch einen Erfolg ist mit Sicherheit DENA, die am Mittwoch beim Abend junger deutscher Talente unter dem Etikett „Wunderkinder“ auftrat. Die gebürtige Bulgarin lebt seit einigen Jahren in Berlin und machte erstmals als Gastsängerin bei The Whitest Boy Alive auf sich aufmerksam.

Oberflächlich betrachtet ist ihre Musik ein prollige Mischung aus Electro und HipHop mit bauchfellzerfetzendem Bass, aber schnell merkt man: die Frau hat Soul, Gefühl und vor allem Witz. Das stellt sie im youtube-Hit Cash, Diamond Rings, Swimming Pools unter Beweis, in dem sie mit Erlend Øye über einen Trödelmarkt hüpft und sich über gleichzeitig über Rapper als auch über Rap-Klischees lustig macht.

DENAs Live-Auftritt ist nach einer halben Stunde vorbei, aber sie hat durchaus das Können und das Charisma, vor 5000 Menschen aufzutreten und nicht bloß vor den 120 im Fake-Rokoko-Club Prinzenbar.

Selbstironischer Garagen-Rock aus Holland

Freitagabend gegen halb 10 ist der Spielbudenplatz an der Reeperbahn, um den sich allein ein gutes Dutzend Spielstätten scharen, brechend voll. Zwischen Davidwache und Wachsfigurenkabinett stellen Künstler ihre Werke bei der Flatstock Europe Poster Convention aus. Ihre Konzertplakate sind so viel mehr als bloße Hinweisflächen für Events; leuchtende Kleinode in limitierten Auflagen, die obendrein noch für wenig Geld zu haben sind.

Nur ein paar Meter entfernt geht es die enge Treppe hinunter in die Katakomben des Molotow. Der legendäre Rockclub, in dem schon Bands wie die Black Keys oder LCD Soundsystem spielten, ist von der Schließung bedroht – es ist unwahrscheinlich, dass der Club nach dem Abriss der baufälligen „Esso-Häuser“ die Miete in einem Neubau zahlen können wird.

Daran jedoch verschwenden Mozes & the Firstborn keinen Gedanken: die vier Holländer rocken sich garagig durch die Songs ihres selbstbetitelten Debütalbums. Dabei erinnern sie abwechselnd an Nirvana und die Babyshambles, wirken aber niemals wie eine bloße Kopie. Ihre Texte sind selbstironisch und für Anfang 20jährige sind sie bereits erstaunlich versierte Instrumentalisten. Und wie es sich für junge Rock’n‘Roller gehört, ist ihre Show nach einer halben Stunde vorbei.

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Melancholie und Dissidenz als Bedingung für Rock'n'Roll

Das Imperial Theater am Anfang der Reeperbahn war früher mal ein Pornokino. Seit 10 Jahren wird der hübsche kleine Saal für Krimi-Vorstellungen genutzt, besonders beliebt sind Bühnenadaptionen von Edgar-Wallace-Romanen. Beim Reeperbahn Festival ist es eine Spielstätte der leiseren Töne. Hier treten Singer-Songwriter wie Benjamin von den Färöer-Inseln auf.

Am frühen Freitagabend stehen jedoch nur Tisch und Stuhl auf der Bühne, eine Lesung ist angesetzt. Der Autor und Konzertveranstalter Berthold Seliger liest aus seinem neuen Buch „Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht“. Seliger ist ein politisch linker Überzeugungstäter, der selbst schon Touren für Patti Smith oder Lou Reed organisiert hat – Künstler, die er persönlich kennt und schätzt.

Auch er verdient mit Musik Geld, aber er führt engagiert und höchst anschaulich aus, wie sich die von Großkonzernen bestimmte Musikindustrie ihrer eigenen Existenzgrundlage entzieht. Seliger schimpft auf eine junge, angepasste Generation von Selbstoptimierern, denen in Castingshows der Konformismus anerzogen wird. Melancholie und Dissidenz, die er schon bei Mozart ausmacht, sieht er als Grundbedingung für den Rock'n'Roll – und für jegliche Form von Kreativität.

Ein großer Teil seines Vortrags, den er mit kurzen Videoclips aufpeppt, ist der Macht der Ticketagenturen gewidmet. Der Riesenkonzern Live Nation könne in den USA quasi jeder tourenden Band seine Bedingungen aufdrücken, in Deutschland habe Monopolist CTS Eventim die Position, hohe Ticketpreise und eine nicht enden wollende Zahl von Gebühren durchzusetzen.

In eine ähnliche Kerbe schlägt der ehemalige Eurythmics-Kopf Dave Stewart in seiner Keynote-Speech „Where Is The Money?“. Stewart zeigt anhand seiner eigenen Karriere die Probleme auf, als Musiker Geld zu verdienen. Der 61jährige verbringt mittlerweile ebensoviel Zeit als Multi-Media-Unternehmer wie als Musiker.

„Weapons of Mass Entertainment“ heißt seine Kreativagentur, und im kommenden Jahr will er die „First Artist Bank“ gründen, die die fairste Bank der Welt sein werde und in der die Künstler das Geld erhalten würden, das ihnen zusteht.

Düsteres im Zirkuszelt

Nach so vielen Reden tut es gut, eine Künstlerin wie Anna Calvi zu sehen. Die Engländerin spricht kaum mit ihrem Publikum und kommt in ihrer Performance ohne jedes Showelement aus. Nur ihr Outfit, das dem eines männlichen Flamencotänzers ähnelt, passt dann doch in das blau-rote Zelt der Fliegenden Bauten, in dem sonst Theater-, Zirkus- und Tanzprojekte zur Aufführung kommen.

Beinahe furchteinflößend wirkt Calvi mit ihren streng nach hinten gebundenen Haaren und dem starken Make-up. Die 33jährige singt und spielt Gitarre mit einer Hingabe und Dringlichkeit, wie man sie sonst nur bei Musikern vom Range eines Jack White kennt. Ihr düsterer Bluessound speist sich gleichermaßen aus Klassik, Oper und Pop, ihr Gitarrenspiel erinnert mal an Jimi Hendrix, mal an den unheilverheißenden Soundtrack eines Italo-Westerns.

Nicht alle Songs sind solch gelungene Kompositionen wie der Eröffnungssong Suzanne and I oder das atemberaubende Jezebel von Edith Piaf, mit dem sie ihren Auftritt beschließt. Aber Anna Calvi, die in diesen Tagen ihr zweites Album One Breath veröffentlicht, hätte das Zeug zum Weltstar, wäre ihre Musik nicht so unbequem. In den Fliegenden Bauten jedenfalls wird sie gefeiert.

Und Douglas Dare, der junge Mann aus dem Schulmuseum? Der Pianist, der gerade seine erste EP Seven Hours auf dem Nils-Frahm-Label Erased Tapes veröffentlicht hat, singt komplett unverstärkt, aber mit wunderbarem Schmelz in der Stimme seine Klavierballaden. Einlass in die mit 120 Leuten randvolle Aula ist nur in Applauspausen. Während dieser gibt er Einblicke in seine Schreibwerkstatt: seine Songs entstünden aus seitenlangen Gedichten, die er dann auf wenige Zeilen zusammenkürze.

Nach Konzertende breitet er seine mitgebrachten CDs auf dem Flügel aus, die 20 Exemplare sind schnell vergriffen. Verkauf in Eigenregie – auch eine bewährte Überlebensmaßnahme für Künstler in Krisenzeiten.

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