Nils Frahm ist geduldig. „Ich geb‘ euch mal einen Moment“, seufzt der Musiker. Etliche Besucher, die eben noch auf dem Boden sitzend den Klängen seines Klaviers gelauscht haben, drängen nun an den anderen vorbei nach draußen, während neue hineinströmen.

Es ist das ewige Problem jedes Festivals: wie sich auf einen Künstler konzentrieren, wenn parallel zig andere auftreten? Und dort möglicherweise das Konzert des Jahres hinlegen?

Ein Festival mit Elbblick

Die Wege beim diesjährigen Hamburger Elbjazz Festival sind glücklicherweise kurz. Zumindest hier, auf der Nordseite der Elbe rund um den Fischmarkt, finden sich fünf Locations in unmittelbarer Nachbarschaft, von der umgebauten Malzfabrik des Design-Kaufhauses Stilwerk bis hin zur klassizistischen St. Pauli Kirche. Unverstellten Elbblick hat man fast überall.

Die Kirche ist ein guter Ort, um den Abend zu beginnen. Hier tritt das Julia Hülsmann Trio auf. Zusammen mit dem Sänger Michael Schiefel interpretieren sie Lieder von Kurt Weill. Schiefel verfügt über eine außerordentliche Stimme, mal androgyn säuselnd, mal waidwund  wimmernd sorgt er dank der kongenialen Begleitung der Pianistin Hülsman für ein seltenes Klangerlebnis… Zu dem man allerdings erst Zugang finden muss – und nebenan, den Pinnasberg hinab, hat schließlich schon Nils Frahm sein einstündiges Set begonnen.

Musik für die dunkle Nacht der Seele

Das Golem ist die Bar des gepflegten Besäufnisses und des ernsthaften Gesprächs, so heißt es in der Getränkekarte, die wie eine edle Novelle anmutet. Nils Frahm wird heute Abend ebenso ernsthafte Musik aufbieten. Seine Solo-Piano-Stück sind mehr Klassik als Jazz, mehr Claude Debussy als Keith Jarrett. Musik für die „dark night of the soul“, wie es David Lynch nennen würde, dessen Filme gut von Frahms Musik untermalt werden könnten.

Nils Frahm lässt sich von den Abwanderungswilligen nicht irritieren: es gibt Momente während dieses Konzerts, die sind so leise, dass man glaubt, den Herzschlag seines Nachbarn zu hören. Die Lüftung ist abgestellt, die Luft im Golem wird schneidend. Nils Frahm, in Röhrenjeans und bunte Ringelsocken gewandt, gibt noch eine Zugabe, bevor er unter tosendem Applaus durch das Publikum sprintet und seinen Abgang durch die berühmte Geheimtür in der Golemschen Bücherwand macht.

HipHop und Jazz im Satin-Bademantel

Der Kanadier Jason Beck alias Chilly Gonzales nennt sich selbst „the musical genius“, und das ist höchstens ein bisschen übertrieben. Genau wie Nils Frahm ist Gonzales ein klassisch ausgebildeter Pianist, aber er ist dennoch so etwas wie die Antithese zu dem zurückhaltenden Berliner: immer wieder springt er auf, feuert das begleitende Streichquartett an, changiert von HipHop zu Pop und ist dabei stets von dem Bedürfnis getrieben, sein Publikum zum Lachen zu bringen.

Gonzales interpretiert Beethovens Fünfte auf Bongos. Gonzales animiert die Zuschauer zum Mitsummen. Gonzales philosophiert vor seinem Song The Grudge über die Energie, die Wut erzeugen kann („the power of Groll“). Gonzales ist so von sich überzeugt, wie man es nach 20 Jahren Bühnenerfahrung, Emmys, Grammys und Alben mit Feist und Jane Birkin nur sein kann.

Auch er beherrscht die melancholischen Momente, wie schon seine aktuelle Platte Solo Piano II beweist, aber es ist Freitagabend, 21 Uhr, und die im Stile einer antik-römischen Markthalle erbauten Fischauktionshalle ist längst an ihrer Kapazitätsgrenze. Also gibt Gonzales den „Entertainist“ im Satin-Bademantel. Auf ihn können sich alle einigen: die Indie-Mädels Mitte zwanzig als auch die angejahrten Funktionsjackenträger.

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Endlich ein ernstzunehmendes Jazzfestival

Das Elbjazz ist in seiner vierten Ausgabe besser besetzt denn je. Zum ersten Mal scheint die Bezeichnung „Jazzfestival“ wirklich angebracht. Dominierten in den Vorjahren oftmals Pop- und Crossover-Künstler, sind anno 2013 endlich internationale Jazz-Größen in der Stadt: der amerikanische Saxofonist Joshua Redman, Trompeter Tomasz Stanko aus Polen mit seinem New Yorker Quartett oder der norwegische NuJazz-Pionier Nils Petter Molvaer.

Am Pop kommen die Festivalkuratoren nicht vorbei, aber die samstagabendlichen Sets von Jamie Cullum und Aloe Blacc bieten wirklich hochklassiges Entertainment für jedermann. Mehr als 60 Konzerte gibt es an zwei Tagen zu sehen, darunter ein Dänemark-Special in Zusammenarbeit mit dem Copenhagen Jazz Festival, DJ-Sets im Golem und dem wiedereröffneten Mojo Club und ein erstaunlich avantgardistisches Programm in der St. Pauli-Kirche.

Der zweite Festivaltag verheißt wenig Gutes: das Wetter, schon Freitagabend von winterlicher Kälte geprägt, bietet nun auch noch Dauerregen auf, obendrein konkurriert das Festival mit dem Champions-League-Finale.

Insgesamt 15.000 Zuschauer sind dennoch an beiden Tagen gekommen, weniger als im letzten Jahr, und dennoch ein Erfolg, angesichts solch ungünstiger Voraussetzungen.

Am Samstagnachmittag haben sich bereits über 1000 Zuschauer per Barkasse nach drüben auf die Elbinsel Kuhwerder schippern lassen. Auf dem Gelände der Großwerft Blohm+Voss findet ein Ereignis statt, dessen Ruf ihm spätestens seit dem Reeperbahnfestival 2012 vorauseilt: ein Konzert des Kyteman Orchestras.

Atemberaubende Posertruppe

Die Gruppe um den niederländischen Produzenten Colin Benders überrumpelt das Publikum mit der versammelten Schlagkraft zweier Fußballmannschaften. Je nach Song stehen bis zu 24 Personen auf der Bühne: jeweils vier Bläser und Streicher, zwei Rapper, ein Background-Chor, Bassisten, Keyboarder, Drummer und weitere Musiker.

Das Kyteman Orchestra ist eine Posertruppe, die sich zwischen den Songs wie Basketballspieler abklatscht. Ihre Stilvielfalt könnte leicht in Beliebigkeit münden, aber die Band spielt ihre Trümpfe gekonnt aus; ein Funk-Instrumental folgt auf einen Jazz-Dub, danach streuen sie einen HipHop-Track ein.

Diese Band könnte wohl auch aus einer Nils-Frahm-Komposition einen Dance-Kracher machen, aber bei aller Partyseligkeit erschafft sie große musikalische Momente. Ein Jam, der mit sorgfältig gesetzten Bläsern wie ein Soul-Stück der britischen Jazz-Erneuerer The Cinematic Orchestra beginnt, endet in der atemberaubenden Grandezza eines Pink-Floyd-Songs.

Die zuhörende Regenschirmträgerschaft, pittoresk  eingerahmt von riesigen Lastenkränen vor der Bühne, nimmt’s begeistert auf und wundert sich über die Energie des Doppeldutzends. Hat etwa die von Gonzales besungene „power of groll“, der Groll auf den Regen, sie beflügelt?

Girls in Airports: Die Zukunft des Jazz

Die andere Elbseite, am vorherigen Tag. Gegen 22 Uhr ist im Golem zum wiederholten Male Einlassstopp. Auf der Bühne steht die Band des Festivals: Girls in Airports aus Kopenhagen. Die Musik der Fünf ist so ungewöhnlich wie der aus einer Albernheit entstandene Bandname. Wie selbstverständlich schütteln sie Cool Jazz, Afro-Beat, Ethio-Jazz oder gar Rock-angehauchtes aus dem Ärmel.

Ekstatisch steigern sich die Songs, bis das brillante Zusammenspiel von Martin Stender und Lars Greve an Tenor- und Baritonsaxofon beinahe Free-Jazz-hafte Züge annimmt. Doch die Gruppe weiß sich stets zurückzunehmen und ein Umkippen ins Disharmonische zu verhindern, auch dank der Begleitung von Mathias Holm an Fender Rhodes und Keyboards.

Bei aller Affinität zu tanzbaren Sounds verlässt das Quintett nie seine komplexen Jazz-Pfade, was das Konzert zu einem einmaligen Erlebnis macht: hier hört man zur selben Zeit Avantgarde und Pop.

Wenn irgendjemand auf diesem Festival die Zukunft des Jazz aufzeigt, dann sind es Girls in Airports.

Kommende Konzerte der genannten Künstler

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