Die große Mississippi-Flut des Jahres 1927 veränderte den Verlauf der amerikanischen Geschichte. Hunderttausende Afro-Amerikaner, vor allem arme Sharecropper, kehrten nicht mehr auf ihre überfluteten Felder zurück, sondern verließen den ländlichen Süden. Sie siedelten sich den Großstädten des Nordens an, vor allem in Chicago.

Die Migranten verfügten nur über wenige materielle Ressourcen, aber sie brachten ihre Kultur in Gebiete mit, in denen bislang nur wenige Afro-Amerikaner gelebt hatten. Und Kultur, das hieß vor allem: Musik. Jazz, Blues, Folk und Gospel waren ihre musikalischen Ausdrucksformen, die tiefe Spuren in der Entwicklung der amerikanischen Musik hinterließen.

Die große Flut

Aufgrund der enormen musikhistorischen Bedeutung der "Great Migration" ist es keine Überraschung, dass Bill Frisell sich bereiterklärt hat, den Soundtrack zu Bill Morrisons Film The Great Flood beizusteuern. Wie nur wenige andere Jazz-Gitarristen lebt Frisells Musik aus der Verbindung verschiedener amerikanischer Musikstile von Blues zu Pop und von Country zu Jazz.

The Great Flood selbst legt in zeitgenössischen Aufnahmen Zeugnis vom gewaltigen Ausmaß der Katastrophe ab. Der Film zeigt bis zum Dach überschwemmte Häuser, überflutete Straßen, weggeschwemmte Autos und riesige Gebiete, die unter Wasser stehen.

Einwohner navigieren auf Booten durch ihre abgesoffenen Städte und Dörfer. Gestrandete werden von Hausdächern gerettet. Hausbewohner blicken entsetzt auf die völlig von den Fluten überschwemmte Umgebung. Ein Paar hat sich auf das Dach ihres Autos gerettet, das aber von den Wassermassen weggerissen wird.

Was geschieht mit ihnen? Der Film liefert keine Antworten und spendet keinen Trost.

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Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen 1927 und heute wirkt das Gezeigte vertraut…

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Zeitloses menschliches Leid

Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen 1927 und heute wirkt das Gezeigte vertraut. Man sieht waghalsige Rettungsaktionen in reißenden Fluten, Männer, die Sandsäcke befüllen und Bilder von Flüchtlingen in Zeltlagern, die auch aus der Gegenwart stammen könnten. Das menschliche Leid im Angesicht der Katastrophe hat sich nicht verändert – die Zeiten hingegen sehr wohl.

Die Flut betraf Weiße und Schwarze gleichermaßen, aber die Hilfe des Staates war ungleich. Weiße wurden bevorzugt, Afro-Amerikaner sich selbst überlassen. Zeitgenössische Bilder, die das zeigen könnten, existieren aber kaum. Hier stößt The Great Flood an Grenzen. Rassismus und Unrecht sind filmisch nicht darstellbar.

Dynamik statt Emotion

Aus diesem Grund versucht auch Bill Frisell nicht, die Bilder emotional zu unterfüttern, sondern verleiht ihnen durch seine Musik zusätzliche Dynamik. Nicht Mitgefühl oder Anteilnahme steht im Mittelpunkt, sondern nüchterne, aber genaue Betrachtung. Das ist ein mutiges Konzept und es gelingt ausgezeichnet.

Unterstützt von den langjährigen Weggefährten Trompeter Ron Miles, Bassist Tony Scherr und Schlagzeuger Kenny Wollesen schafft Frisell einen dichten Klangteppich, der nicht aufdringlich wirkt, der aber immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Bill Frisells Quartett überzeugt mit gewohnter Stringenz und Konzentration. Die Kompositionen lassen an seine hervorragenden Alben der späten 1990er und frühen Noughties erinnern. Sie stehen in der besten Americana-Tradition, sind flüssig, präzise und einnehmend. Es wäre durchaus spannend gewesen, die Musik ohne den Film zu hören, denn für sich selbst bestehen kann sie auf jeden Fall.

Die Zuschauer bejubeln Frisell am Ende des knapp neunzigminütigen Konzerts im fast ausverkaufen Kulturzentrum dasHaus in Ludwigshafen ausgelassen. Die Verarbeitung der musikalischen und filmischen Eindrücke des Abends wird aber noch eine Zeitlang in Anspruch nehmen.

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