Peter Brötzmann eröffnete das Konzert am Tárogató, einem ungarischen Instrument, das trotz seiner Ähnlichkeit mit einer Klarinette nahe mit den Saxophonen verwandt ist. Fotostrecke starten

Peter Brötzmann eröffnete das Konzert am Tárogató, einem ungarischen Instrument, das trotz seiner Ähnlichkeit mit einer Klarinette nahe mit den Saxophonen verwandt ist. © Daniel Nagel

In der ausverkauften Cafeteria der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg fand gestern das erste von drei Solokonzerten im Rahmen des Enjoy Jazz-Festivals statt: Peter Brötzmanns Auftritt dauerte nur eine knappe Stunde, hinterließ aber nachhaltigen Eindruck.

Als Ornette Coleman vor vielen Jahren das inzwischen als Sound Grammar veröffentlichte Konzert in Ludwigshafen spielte, unterhielt ich mich mit einem Ehepaar, das offensichtlich keine Ahnung hatte, auf welche Art von Musik sie sich einließen, als sie ihre Karten kauften. Ansonsten besuchten sie Musicals, so berichteten sie, und andere Konzerte mit eher gefälliger Musik. Man konnte das überraschte Entsetzen in ihren Augen sehen, als Coleman anfing zu spielen und trotz des Schocks blieben sie relativ lange, wenn auch nicht bis zum Ende.

Ganz ähnlich ist es bei Peter Brötzmann. Als er das Solokonzert in der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg mit einem gewaltig lauten Ton aus seinem Tárogató beginnt, zuckt eine ältere Dame merklich zusammen. Ein anderer Besucher, der in der ersten Reihe sitzt, rückt auf seinem Stuhl so weit nach hinten, als wolle er den größtmöglichen Abstand zu dem direkt vor ihm stehenden Brötzmann einnehmen. Die ersten Minuten des Konzerts sind so laut, dass der Klang in meinen Ohren "kreiselt". "Stimmt vielleicht etwas mit ihren Ohren nicht?" sagt Brötzmann, als ich ihn nach dem Konzert darauf anspreche.

Lautstärke ist immer ein Thema

Im nächsten Satz gibt er allerdings zu, dass der Sound in der "Cafeteria Heinrich Heine" (jaja!) der privaten Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg "brutal laut" ist. Der Grund ist einfach: Es handelt sich nicht um einen modernen Zweckbau, sondern um ein frühneuzeitliches Kellergewölbe, in dem früher wohl gefochten wurde. Hier braucht man keine Verstärker – Peter Brötzmann sowieso nicht.

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Die Lautstärke wird bei Brötzmann immer ein Thema sein, und zwar weil sie so immens ist. Aber Brötzmann ist keineswegs nur laut: Es gibt etwas in seiner Musik, das verhindert, dass man sich entsetzt die Ohren zuhält. Brötzmanns Klang wirkt so aufrichtig und entwaffnend, dass man davon völlig vereinnahmt wird, ohne sich wirklich wehren zu können. Selbstverständlich bildet sich in jeder Musik ein Teil der Persönlichkeit des Musikers ab, aber nur bei Brötzmann erweckt sie den Eindruck, als erhielte man ein ungefiltertes und unverfälschtes Porträt des ganzen Brötzmann.

Wut und Trauer

Das mag eine Illusion sein, aber es ist eine sehr eindrucksvolle. Ein Soloauftritt, so erklärt Brötzmann später, ist eine besondere Art der Performance, die er nicht jeden Abend machen könnte. Das Zusammenspiel in der Gruppe sei der eigentliche Kern der Jazzmusik. Aber ein Solokonzert bietet eben eine einmalige Gelegenheit, den musikalischen Charakter eines Künstlers noch direkter zu erfahren als ein normales Konzert.

Welches Instrument Brötzmann auch spielt, Tenor-Sax, Alt-Sax, Tárogató oder Klarinette, man hat nie den Eindruck, dass er etwas verbirgt, sondern dass er im Gegenteil alles aus sich herauslässt. Darunter befindet sich nicht nur Wut, die er im anschließenden Gespräch als eine wichtige Triebfeder identifiziert, sondern auch Trauer. Diese ist an diesem Abend besonders ausgeprägt, da Brötzmann um seinen kürzlich verstorbenen Freund John Tchicai trauert, dem er die Musik dieses Abends widmet. "Wenn man so alt ist, sterben die Freunde wie die Fliegen", sagt er traurig und doch ohne Sentimentalität.

Der Kreis schließt sich

So mischen sich zärtliche, verletzliche Augenblicke mit der wilden, ungezügelten Kraft seiner Musik. Brötzmanns Musik ist nicht schön, verschmäht aber die Schönheit nicht. Das abschließende Stück, gespielt mit einem Tenor-Sax, erinnert an die Märsche, die sich in der Musik von Albert Ayler so zahlreich niedergeschlagen haben. Vielleicht ist diese Improvisation als Gedenken an die verstorbenen Freunde und Kollegen zu verstehen.

Zum Abschluss spielt Peter Brötzmann noch eine bekannte Komposition eines seiner Lieblingsmusiker, und zwar eine kurze Interpretation von Ornette Colemans Lonely Woman. Der Kreis hat sich geschlossen.

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