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Dinosaur Jr. (live in Wiesbaden, 2017) © Christian Düringer

Im Schlachthof Wiesbaden beweisen Dinosaur Jr., dass ihre Band der Gegensätze nach wie vor Rockmusik jenseits des Mainstream auf hohem Niveau liefert, ohne dabei in gefährliche Klischees zu verfallen.

Der Wiesbadener Schlachthof füllt sich nur gemächlich für das Konzert von Dinosaur Jr. Das Publikum besteht vor allem aus Männern, die Ende der 1980er jung waren und jetzt nicht mehr um die besten Plätze vor der Bühne rangeln wollen – oder vielleicht einfach nur in aller Ruhe den Regenschauer abwarten, der sich über der hessischen Landeshauptstadt entlädt.

Ring frei für den Slacker-Gott

Bei einem Dinsosaur Jr. Konzert geht es inzwischen auch vor der Bühne gediegener zu. Auf der Bühne zählte gesteigerte Aktivität ohnehin noch nie zum Markenzeichen der Band – zumindest nicht zu dem von Mastermind J Mascis.

Als der 51-Jährige gegen 21 Uhr seine Fender Jazzmaster in die Marshall-Amps stöpselt, ist das ein inzwischen ikonografisches Bild. Zwischen seinen Gerätschaften wirkt der stoische Bandchef mit weißer Mähne, ergrautem Vollbart und seiner Vorliebe für knallbunte Trainingsjacken und Hornbrillen inzwischen wie der Slacker-Gott höchstpersönlich.

Keine Show ist die Show

Niemand hat die Attitüde des unangepassten, nerdigen Leistungsverweigerers über die Jahre so liebevoll kultiviert wie Mascis - und deshalb funktionieren Dinosaur Jr. auch live nach wie vor so gut. Keine Show ist die Show, und entsprechend wenige der Fettnäpfchen stehen bereit, in die alternde Rockstars sonst gerne treten. Mascis kommt gar nicht erst in die Verlegenheit, den junggeblieben, vitalen Rockstar zu mimen.

Die Halle füllt sich dann doch noch pünktlich und das Wiesbadener Publikum feiert den brachialen Sound der Indie-Rock-Veteranen vom ersten Moment an. Es ist wie immer ohrenbetäubend laut und es ist Mascis, der mit seinem Gespür für unverschämt eingängige Melodien den einzigartigen Sound der Band prägt.

Unprätentiös vorgetragene Metal-Riffs kommen ohne breitbeinigen Hardrockgestus aus, und im streng abgesteckten Bewegungsradius vor seiner Marshall-Kulisse gniedelt Mascis ein wunderbares Solo nach dem anderen aus dem Handgelenk. Live saufen seine nöligen Vocals gerne im Feedback- und Distortion-Orkan des eigenen Gitarrenlärms ab, aber das muss genau so sein.

Band der Gegensätze

Während seiner demonstrativ tranig-lakonischen Performance rutscht Mascis hin und wieder ein knappes "Thanks" in Richtung Publikum raus. Dabei lugt er kurz unter seiner ergrauten Mähne hervor. Ansonsten stellt er einzig und alleine seine Songs in den Vordergrund und überlässt Bassist Lou Barlow das Entertainment. Wie ein Berserker malträtiert dieser sein Instrument, springt, tobt und scheint fürs Headbangen Sonderzulagen zu kassieren. Sein hellgraues Hemd ist nach kurzer Zeit schweißgetränkt.

Durch sämtliche Schaffensphasen folgt schnörkellos eine Nummer auf die andere. Die neue Single "Tiny" fehlt dabei ebenso wenig wie die Indie-Hits "Start Choppin'" und "The Wagon" aus der 90er-Phase, in der Mascis die Band ohne Barlow und Drummer Murph quasi als Solo-Projekt weitergeführt hatte.

Eigentlich müssten Dinosaur Jr. inzwischen zu jenen Kandidaten zählen, die man bei jedem neuen Album stets wegen ihrer frühen Verdienste lobt und das aktuelle Schaffen nur so nebenbei brav mit durchwinkt. Mit ihrer einflussreichen Vorreiterrolle am Vorabend des Grunge Ende der 1980er Jahre haben sie ihren festen Platz in den Annalen der Popmusik. 1989 wollte Kurt Cobain J Mascis gar zu Nirvana holen. Der lehnte dankend ab. Zum Glück.

Neue Songs müssen die Klassiker nicht fürchten

Denn so ist im vergangenen Jahr mit "Give a Glimpse of What Yer Not" das bereits vierte großartige Album seit der Wiedervereinigung und das elfte des Trios insgesamt erschienen. Die neuen Songs dominieren die Setlist und müssen auch live die Konkurrenz der Klassiker nicht fürchten. Frühe Perlen wie "Freak Scene" spart sich die Band für den Schluss auf, und das The Cure-Cover "Just Like Heaven" kommt als obligatorische Zugabe.

Trotz oder gerade wegen der inzwischen 33 Jahre währenden Band-Historie ist es ein Erlebnis, Dinosaur Jr. live zu erleben. Beständig liefern sie Kapitel um Kapitel ab und bringen das Kunststück fertig, mit ihrer Mixtur aus Punk, Metal und Noise-Rock nicht zu langweilen. Im Gegenteil: Zufrieden verlassen die Wiesbadener Fans nach 90 Minuten den Schlachthof. Und der Regen hat sich auch verzogen.

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