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Jethro Tull live 2022 © Nick Harrison

Im dritten Anlauf seit 2020 zeigt sich der Mann mit der Flöte seiner treuen Anhängerschaft im gut gefüllten Mannheimer Rosengarten agil und spielfreudig wie lange nicht mehr. Dabei streuen Jethro Tull konsequent neue Songs mit ernsten Themen unter den stets illustren Reigen an Klassikern.

Ungewohnt lange musste der Mannheimer Rosengarten auf die Wiederkehr einer seiner wohl beliebtesten und regelmäßig gastierenden Gäste warten. Ian Anderson, der sich seit diesem Jahr wieder pur Jethro Tull nennt, wollte die Tournee im ersten Corona Jahr unter das Motto "The Prog Years" stellen.

Stattdessen stellte er in der Corona-Zwangspause sein jahrelang verschobenes Album "The Zealot Gene" fertig und strich die "Passion Play"- und "Thick As A Brick"-Passagen aus der Setlist. Der Meister kramte etwas tiefer in seinem Backkatalog und dem treuen Mannheimer Publikum wieder einen Kessel Buntes, inklusive der unverwüstlichen Gassenhauer aus den 70s und gelungen Videoprojektionen zu Veranschaulichung der Songinhalte.

Instruktionen und die Geschichte des Progs

Nach den, heute leider notwendig gewordenen, Instruktionen zur Handy-(nicht)-benutzung und der Bitte zum Verharren auf den Sitzen, läuft auf dem Videoscreen eine Art geschichtlicher Entwicklung des britischen Progs in Bildern (Pink Floyd) und man hört Auszüge aus dem Schaffen von Jethro Tull.

Die Clips verdeutlichen vor allem nochmals, mit welch unbändiger Spielfreude und Dynamik sich diese Band im Studio und auf der Bühne einen Namen in der Rockgeschichte erarbeitet hat. Immer unter der "eisernen Hand" des Flötenderwischs, in guten, wie auch in weniger guten Zeiten.

Nicht chronologisch, aber wertvoll

Das Prog Years Motto folgt auch im Jahr 2022 keiner echten Chronologie und ist im Grunde wie in aktiveren Jahren, die Tour zur aktuellen Platte mit Klassikern garniert. Mit einem stürmischen „For A Thousand Mothers“ und dem in über 50 Jahren eher selten gehörten "Love Song" wird den 60s und somit den bluesigen Anfängen Rechnungen getragen.

"Living In The Past“ als Signal-Tune zeigte 1969 dann schon, dass Anderson nach mehr strebte. Die Fans freuen sich, sehen auch dieses Mal wieder über Andersons immer dünner werden Gesang hinweg, der zu Beginn auch noch mit Tonproblemen zu kämpfen hat und im Bandsound fast untergeht. Relativ schnell finden die Techniker aber eine bessere Balance und der Gesamtsound wird rasch homogener.

Wilde Mischung und Tulls Schlagzeuger

Weiter geht der wilde Ritt mit dem dunklen "Hunt By Numbers", das seit der J-Tull.Com Tournee 1999 fast vergessen schien und der Ambivalenz von Hauskatzen als Kuscheltiere und Mörder Rechnung trägt, nur um von „Dharma For One“ abgelöst zu werden, das einst Urdrummer Cllve Bunkers Paradestück war.

Anderson philosophiert dazu bei der Ansage scherzhaft über den Drummerverschleiß seiner Band und die Videomontagen im Hintergrund setzen alle Tull-Drummer der Jahrzehnte in Szene. Sie begleiten symbolisch den wackeren Scott Hammond, der seit 2012 den "Schleudersitz" innehat, seine Sache aber auch an diesem Abend mit Bravour meistert.

Dabei erreicht er jedoch nie die von Fans immer noch vermisste Intensität und Exaltiertheit des Spiels eines Barriemore Barlows, sondern bleibt durch und durch songdienlicher Mitmusiker.

The Broadsword & The Beast

Passend zum "Broadsword" T-Shirt am Merchstand und in froher Erwartung der Tull-Gemeinde auf Steven Wilsons vorerst letzten Remix des Tull Oeuvres, spielt die Band das selten gehörte "The Clasp", das Anderson an diesem Abend als seinen persönlichen Favoriten der Platte bezeichnet.

"Broadsword" von 1982 gilt als letzte wirklich große Bandplatte von Jethro Tull und ist, gerade in Deutschland, immer noch sehr beliebt. Die Band und speziell Keyboarder John O'Hara treffen an diesem Abend die Symbiose aus Folk, Hardrock und Synthesizer-Sounds perfekt und die "Altfans" im Mannheimer Rosengarten haben Gänsehaut. Das ist Jethro Tull.

Neues Bandmitglied und bald auch neue Musik

Gitarrist Joe Parrish ist in Mannheim zum ersten Mal dabei und löst Publikumsliebling Florian Opahle ab, der sich lieber seinem eigenen Studio widmen möchte. Mit gerade mal 27 fügt sich der neue Gitarrist gut in die Band alter Hasen ein, schlägt als Heavy Metal Fan mit Folkbackground durchaus härtere Töne an und unterstützt den Meister auch gesanglich bei Stücken wie z.B. "Black Sunday".

Anderson teilt mit, dass er gerade das Mastering der neuen Platte abgeschlossen hätte, die im April 2023 erscheinen soll. Plötzlich haben neue Tull Platten wieder einen Jahresrhythmus und Anderson sagt scherzhaft, er müsse sich beeilen, denn er lebe ja nicht mehr ewig. Es wird definitiv spannend zu hören sein, wie Parrish hier seinen Einfluss geltend machen kann und ob er mit dem 75-jährigen Anderson auch im Studio so gut harmoniert, wie an diesem Abend live in Mannheim.

The Zealot Gene

Mit drei Stücken ist jedoch momentan noch die aktuelle, von biblischen Motiven inspirierte Platte, sehr präsent in der Setlist vertreten. Anderson gelang dieses Jahr eine künstlerische Rückmeldung und vieles trägt dem fortgeschrittenen Alter und dem Gesangsvolumen des Protagonisten gekonnt und geschmackvoll Rechnung.

Der Titelsong rockt wie in besten Tagen und thematisiert Machtpolitiker wie Trump und ihren Missbrauch der digitalen Medien. "Mine Is The Mountain" orientiert sich musikalisch am legendären "My God" und wird wieder bildgewaltig von den Videoprojektoren in Szene gesetzt.

Bedrückende Relevanz

Mit "Mrs. Tibbets" schließlich spielt die Band auch einen den besten Songs der aktuellen Platte und so manchem/mancher im Saal wird es flau im Magen, wenn auf den omnipräsenten Videoleinwänden die aktuellen Militäraufmärsche und Nuklearwaffen-Paraden auf dem roten Platz gezeigt werden.

Die Leichtigkeit des Flötenmotivs wird vom schwierigen Thema, des ersten Einsatzes von atomaren Waffen 1945, konterkariert und zeigt, dass Anderson immer noch ein begnadeter Texter ist. Schwarzhumorig und doch immer zeitgemäß relevant strickt er eine Geschichte um das historische Datum und spekuliert über Mrs. Tibbets: "And perhaps, she should have kept her pants on".

Überhaupt scheut er sich an diesem Abend nicht, Putin beim Namen zu nennen und auch auf der Leinwand darzustellen, von wem er alles mal hofiert wurde. Er legt damit bei uns Deutschen auch bewusst den Finger in die Wunde.

Beliebte Klassiker

Die fein eingespielte Band interpretiert Johann Sebastian Bach’s "Bourrée" jazzig wie eh und David Goodier darf den Bass unter Szenenapplaus slappen. "Pavane" stellt als Instrumentalstück fast den proggisten Moment des Abends dar.

Die unvermeidlichen Klassiker aus den Heydays "Songs From The Wood" und "Too Old To Rock'n'Roll" zeigen keine Abnutzungserscheinungen. Sie strahlen an diesem Abend sogar besonders hell und kräftig.

"Aqualung" bekommt schließlich ein neues kompositorisches Korsett, das Anderson als Sänger nicht mehr alles abverlangt und der Band Platz für Improvisation und Ausflüge lässt.

Finale mit Handys

Jethro Tull funktionieren als Akt auch 2022 hervorragend und nach der Pause wirkt der Meister immer noch spielfreudig und beweglich, ja fast sogar frischer und inspirierter als noch z.B. bei der Rock Oper-Inszenierung 2016, als man auch in Mannheim mit Gesangduetten vom Videoscreen arbeitete.

Anderson macht seine Posen, steht auf einem Bein, schnaubt wie eine Dampflock in die Flöte und darf dann auch zum großen "Locomotive Breath"-Finale von allen fotografiert und gefilmt werden.

Der klassische "The Dambusters March" verabschiedet dann die treue Fangemeinde, die glücklich und dankbar ist, in diesen Zeiten an alte liebgewonnene Tradition wieder anknüpfen zu dürfen. Das gibt Halt und doch weiß jeder, dass die Band nicht mehr ewig touren kann. Die neue Platte und der nächste Gig in Mannheim können aber erstmal noch kommen.

Setlist

For A Thousand Mothers / Love Story / Living In The Past / Hunt By Numbers / Dharma for One / Clasp / Mine Is The Mountain / Black Sunday / Bourrée In E Minor / Too Old To Rock 'n' Roll, Too Young To Die / The Zealot Gene / Pavane in F-Shape Minor / Mrs Tibbets / Songs From the Wood / Aqualung / Locomotive Breath / Dambusters March

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