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Dream Theater (live in Frankfurt, 2020) © Leonard Kötters

Die New Yorker Prog Metal-Institution kehrt gestärkt aus der Winterpause zurück und zelebriert in der Frankfurter Jahrhunderthalle ein dreistündiges Set, das den Klassiker "Metropolis Pt. 2: Scenes From A Memory" komplett enthält.

Mit „Distance Over Time“ gelang Dream Theater ein Befreiungsschlag. Nicht nur Platz 1 in den Charts sprang auf der Habenseite raus. Der Prog-Express verbuchte auch musikalisch ein großes Plus auf dem Fankonto. Die Erwartungen bei der darauffolgenden Tour stiegen zudem ins Unermessliche, als die Ankündigung folgte, das 1999er Konzept-Meisterwerk „Metropolis Pt.2:  Scenes From A Memory“ in Gänze zu spielen.

Bei den Sommer-Shows schauten die europäischen Fans zunächst in die Röhre. Die New Yorker brachten uninspiriert und mit ernüchternder Spielzeit sozusagen eine Mogelpackung auf die Bühne. Viele alteingesessene Fans nahmen dies dem Quintett übel und wandten sich komplett von Petrucci und Co. ab. Für diejenigen mit langem Atem gibt es nun auf der Hallentour 2020 tatsächlich den ersehnten "Evening" mit Dream Theater.

Atmosphäre unter der Kuppel

Der erste Teil der Show gleicht den Sommer-Shows sehr. Die Visuals sind atmosphärisch gestaltet und kommen unter der Kuppel natürlich besser zur Entfaltung. Manch kritisch-grimmigen Fan kann der Opener „Untethered Angel“ offenbar nicht überzeugen.

Der zweite Song „A Nightmare To Remember“ von „Black Clouds And Silver Linings“ ist hingegen ein gnadenlos gutes Stück Musik. Black Metal-Unheil zu Beginn, sattes Riffing in der Strophe und ein himmlischer Refrain im C-Teil ergeben einen ersten Höhepunkt.

Ein sattes solistisches Stelldichein

James LaBrie hält seine Energie noch im Zaum. Seine Mitstreiter agieren direkt auf der Höhe. Jordan Rudess lässt sich direkt mit seinem Umschnallkeyboard vorne blicken und liefert sich ein sattes solistisches Stelldichein mit Kollege John Petrucci. LaBrie begrüßt danach die Zuschauer, gibt aber unumwunden zu, dass er lieber die Musik sprechen lassen will.

Eine Harke Metallica gefällig? Dieser Einfluss prasselt besonders beim Hauptriff von „Fall Into The Light“ auf das still staunende Publikum. Die Dominanz der Gitarre verdeutlicht einmal mehr, wer in dieser Band den Ton angibt. Spielt Petrucci brachial, klingen Dream Theater nach Metal; spielt er raumgreifend-elegisch, weht der Geist von Rushs Alex Lifeson durchs weite Rund; bedient er hingegen eher die akustisch-emotionale Schiene, wähnt man sich in den frühen Siebzigern.

Knoten ins Hirn

„Barstool Warrior“ referiert eindeutig das Debüt und „Images And Words“. Luftig, locker und voller Melodie – dagegen dreht das darauf hereinbrechende „In The Presence Of The Enemy“ mit seinem Notensalat den Fans einen Knoten ins Hirn. Wie hingegen das Highspeed-Anfangsriff in metrisch gedehnter Form in den Gesangsteil überleitet, ist gekonnt komponiert.

Wie im Sommer belassen es die fünf Musiker beim ersten Teil des Songs und gehen direkt zum Abschluss vom Set 1 über. „Pale Blue Dot“ ist Dream Theaters Beitrag aus der Vogelperspektive zu den schönen und schrecklichen Dingen, die die Spezies Mensch auf diesem knuffigen Materiehaufen angezettelt hat. Mit Stroboskop-Gewitter geht es in die Pause. Sind schon die Härte die Jungs, so die einhellige hessische Meinung.

Magie oder Mogelpackung

Schein oder nicht Schein lautet die Frage beim zweiten Teil. Entfaltet „Scenes From A Memory“ noch dieselbe magische Wirkung in der Live-Umsetzung wie vor zwanzig Jahren oder ist das Jubiläum nur ein schwacher Abglanz? Das Werk steht als Monolith neben Queensryches „Operation Mindcrime“.

Nach dem mittelmäßigen Business-Kotau „Falling Into Infinity“ gelang damit der Befreiungsschlag. Dream Theater produzierten selbst und hatten die komplette Federführung über die Musik in den eigenen Händen. Ausgangspunkt war der Meistertrack „Metropolis Pt 1“ von „Images And Words“ sowie ein zweiter Part, der als Demoversion 1997 entstand.

Roaring Twenties und gerissene Saiten

Die Anfangszeilen “Safe in the world that surround us, free of the fear and the pain” hüllen die Zuschauer ein und transportieren sie in die Handlung des Albums. Der Hypnosetherapeut betreut den Protagonisten Nicholas, um dessen verwirrende Träume zu dechiffrieren. Dieser wähnt sich in den 1920er Jahren im Körper der jungen Frau Victoria. Die Roaring Twenties-Mucke zum Einstand ist somit nur folgerichtig.

Mit „Overture 1928“ leitet die Formation instrumental ins Geschehen ein, dass von vielen Bildfolgen und Sequenzen anschaulich symbolisiert wird. Selbst eine gerissene Saite bringt Petrucci nicht aus dem Konzept. Bei „Strange Deja Vu“ setzen sich die Fragment-Fetzen von Nicholas langsam zu einem kohärenten Bild zusammen.

Toxisches Dreiecks-Verhältnis

Als Reinkarnation von Victoria Page schlittert er in ein toxisches Dreiecks-Verhältnis. Die Musical-mäßige Überleitung „Through My Words“ singt LaBrie gefühlvoller als das komplette erste Set. Entsprechend der Zeitlosigkeit der Musik tauscht er seinen Totenkopf-Mikroständer gegen einen mit Infinity-Zeichen ein.

Bei „Fatal Tragedy“ überholt die Band sich förmlich selbst.  Ein kurzes Drumbreak bietet Rudess die Gelegenheit zum Wechsel an dessen Umschnallkeyboard. Vom Umschnallen zum Überschall lautet die Devise beim thrashigen Beginn von „Beyond This Life“. Der Alkohol- und Spielsüchtige Charakter Julian Barnes wird leblos neben Victoria aufgefunden. Zunächst gehen alle vom einem Romeo und Julia-artigen Ende aus. Der brillante Soloteil, der die Traditon des Jazz und Blues mit der Selbstdarstellungskunst moderner Solisten verbindet, raubt schier den Atem.

Eine Riff-Offenbarung

Die dem Artwork entlehnte rot-orangene Farbgebung bestimmt die Lightshow. In „Through Her Eyes“ bedauert Nicholas den Tod seines vorherigen karmischen Alter Ego. Der Tränenzieher zeigt LaBrie von seiner besten Seite und nutzt die verhallenden Töne zu einer kurzen Ansprache, in der er die Eckpunkte der Story umreißt. Er initiiert noch ein kurzes Mitsingspiel und leitet zum Kracher schlechthin.

Das mit einem orientalisch anmutenden Intro beginnende „Home“, mündet in eine Riff-Offenbarung, die anschaulich den Fall von Julian, der auch "The Sleeper" genannt wird, schildert und wie sein Bruder Edward, alias "The Miracle", eine geradezu obsessive Zuneigung für Victoria entwickelt.

Munteres Taktarten raten

Die Musik changiert beständig zwischen dem eindringlichen Refrain und halsbrecherischen Instrumental-Passagen, die jedoch vor dem Monster-Instrumental „The Dance Of Eternity“ verblassen. Was hier jeder der Mucker vom Stapel lässt ist unglaublich. Der Schweigsame im Bunde, Bassist John Myung, streut in seiner zehnsekündigen Soloeinlage mehr Noten ein, als die meisten Tieftöner in ihrem ganzen Leben zupfen.

Beim munteren Taktarten-Raten soll die Leistung von Jordan Rudess nicht unerwähnt bleiben. Der spitzbärtige Virtuose deckt hier von Kirmes-Klimpereien bis hin zu den warmen analogen Sounds seines Vorgängers Kevin Moore das gesamte Tastenspektrum ab.

Die großen Fragen des Lebens

Nach dem Zitate-Flashback „One Last Time“ stellt LaBrie in „The Spirit Carries On“ die großen Fragen des Lebens und die Band bettet die Sinnsuche in eine von AOR und Gospel gleichermaßen beeinflusste Ballade, die heuer viele Herzen erreicht. Die emphatischen Zuschauerreaktionen sprechen Bände.

Das große Finale „Finally“ Free löst die Malaise schließlich auf. Der charismatische Edward wird zum skrupelosen Mörder. Der Lebemann Julian mit den kantigen Gesichtszügen zum tragischen Held. Musikalisch fährt die Band die komplette emotionale Klaviatur rauf und runter. Ob Nicholas/Victoria den Seelenfrieden finden?

Sprung zurück in die Realität

„Open your eyes, Nicholas“ spricht zum Abschluss der Hypnotiseur und wahrlich, der Sprung zurück in die Realität fällt ob der immensen Qualität des Dargebotenen vielen Fans schwer. Immerhin gibt es als Bonmot noch den besten Track der jüngsten Langrille obendrauf. „At Wits End“ spannt den Bogen ins hier und jetzt.

In dieser Form und unter Einlösung ihres vor einem Jahr gegebenen Versprechens dürften Dream Theater mit ihrer Balance zwischen virtuos und melodiös viele Anhänger wieder einfangen. Klar, fehlt dem Sänger mittlerweile die Kraft für drei Stunden hohes Niveau. Aber die Performance bei der Komplettaufführung von „Scenes From A Memory“ muss man ihm hoch anrechnen. Dies zeigt auch, worauf der Fokus an diesem Abend lag.

Setlist

Untethered Angel / A Nightmare to Remember / Fall Into the Light / Barstool Warrior / In the Presence of Enemies, Part I / Pale Blue Dot/ Regression / Overture 1928 / Strange Déjà Vu / Through My Words / Fatal Tragedy / Beyond This Life / Through Her Eyes / Home / The Dance Of Eternity / One Last Time / The Spirit Carries On / Finally Free // At Wit's End

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