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Tocotronic werden ihr neues Album 2013 auch live präsentieren © 2012, Michael Petersohn

Tocotronic sind zurück! Zum 20-jährigen Bandbestehen veröffentlichen sie am 25. Januar 2013 nicht nur das neue Album "Wie Wir Leben Wollen", sondern läuten nach der Berlin-Trilogie auch eine neue Ära ein. Wir trafen uns mit Arne Zank und Rick McPhail in Berlin und sprachen über das neue Tocotronic-Album, die Aufnahmen mit einer altehrwürdigen Tonbandmaschine, Geschlechterrollen und Gleichberechtigung sowie gesellschaftlichen Druck und dessen Auswirkungen.

regioactive.de: Mit Schall & Wahn wurde eure Berlin-Trilogie beendet, dieses Jahr feiert Tocotronic nun nicht nur 20-jähriges Bandbestehen, sondern veröffentlicht mit Wie Wir Leben Wollen auch ein neues Album. Bezieht sich der Titel auf euch persönlich oder auf die Gesellschaft im Ganzen?

Rick McPhail: Jeder kann das für sich persönlich interpretieren, doch Songwriting ist meist ein persönlicher Verarbeitungsprozess. Das Album soll keine 'tocotronische Vorlage' dafür sein, wie man leben soll. Es ist auch keine Erzählung, sondern nur ein Protokoll. Es zeigt, wo wir derzeit stehen und wie wir denken. Es würde uns freuen, wenn die Hörer daraus etwas lernen könnten.

regioactive.de: Ihr habt 99 Thesen dazu aufgeführt. Inwieweit protokolliert ihr hierbei verschiedene Lebensentwürfe?

Arne Zank: Wir spielen keine Lebensentwürfe durch, sondern sind auf der Suche nach ihnen. Wir beschreiben nur den Prozess, wie man sich den Antworten auf Fragen zum eigenen Lebensentwurf nähern kann. Dem Album sollte wie dem Manifest zu Kapitulation eine Geschichte innewohnen. Diese Thesen füllen den Albuminhalt sehr schön aus und geben ihm eine größere Bedeutung.

Rick: Wenn wir Platten aufnehmen, dann wollen wir uns nicht von anderen Menschen eine bestimmte Form aufzwingen lassen. Wir wollen das Album selbst gestalten. Das macht es interessanter für uns. Wir finden das auch inspirierender, als jedes neue Album zum bis dato persönlichsten Album zu erklären.

"Wir haben unserer Kreativität mehr freien Spielraum gelassen"

regioactive.de: Ihr habt mit einer alten Vierspur-Tonbandmaschine aus dem Jahr 1958 aufgenommen. Inwiefern hat das euren Sound beeinflusst oder gar verändert?

Rick: Die letzten drei Platten wurden alle live eingespielt. Dabei hatten wir versucht, den Raumklang mit wahnsinnig vielen Mikrofonen in 3D zu erfassen. Durch die limitierten technischen Möglichkeiten der Tonbandmaschine sind wir anders heran gegangen und haben unserer Kreativität mehr freien Spielraum gelassen. Die früheren Platten hatten etwas psychedelisches, nun klingt unsere Musik rockiger.

Arne: Während man bei digitalen Aufnahmen Entscheidungen revidieren kann, muss man sich mit der Tonbandmaschine auf bestimmte Entschlüsse festlegen und – mit allen Vor-und Nachteilen – gezwungenermaßen damit umgehen. Das fand ich spannend. Zur Vorbereitung hatten wir außerdem ein Beatles-Buch studiert. Darin schildern sie ihre Erfahrungen mit dieser Aufnahmetechnik und analysieren  Tonspuren der Beach Boys. Das zeigte uns, dass irre Entscheidungen getroffen wurden, die offensichtlich aus Not heraus fielen, also aufgrund mangelnder technischer Möglichkeiten. Doch manches davon hat diese Songs überhaupt erst zu Hits werden lassen. Für uns war es ein gewagtes Experiment, weil man sich viele moderne Möglichkeiten nimmt. Aber ich finde, das Risiko hat sich gelohnt.

Rick: Es gab aber auch riesige Probleme. Einmal hat mir beim Aufnehmen ständig die Spur versagt. Wir haben uns darüber tagelang den Kopf zerbrochen. Bis der Catering-Service kam und die Heizplatte im Raum nebenan angemacht hat. Da fanden wir heraus, dass die Heizplatte am gleichen Stromnetz hing und es deshalb zu bizarren Lautstärke-Schwankungen kam. Einige davon sind sogar noch auf der Platte zu hören. Wir haben uns aber dazu entschieden sie nicht rauszunehmen, weil sie zum Aufnahmeprozess der Platte einfach dazugehören.

Arne: Zur Verteidigung des Studios und seines Besitzers Ingo Krauss muss ich aber sagen, dass er das Problem schnell durchschaut und repariert hat. Aber klar, solche Dinge haben wir nicht vorausgeahnt.

Wenn man den Tod abschafft…

regioactive.de: Das Album prägen auch die Begriffe von "Körper" und "Befreiung". Wie würdet ihr den Körper von der Seele unterscheiden?

Arne: Dirk meint damit genau den Gegensatz zur Vorstellung von einer Seele, die mit dem Körper eine Einheit bildet. Diese beiden Pole existieren getrennt voneinander. Er findet es spannend, wie der Körper auf diese Trennung reagiert.  

Rick: Solange man jung ist, kann man den Körper ziemlich kaputt machen, ohne davon etwas zu spüren. Aber im Alter reagiert der Körper empfindlicher und man kann ihn nicht mehr so belasten.

regioactive.de: Seht ihr persönlich einen religiösen Bezug in dieser Thematik?

Rick: Ich bin Atheist. Deshalb glaube ich auch nicht an die christlichen Vorstellungen von Körper und Seele. Ebensowenig glaube ich an ein Leben nach dem Tod, sondern daran, dass wir einfach unser Leben leben und danach der Tod kommt. Ich lebe in der Gegenwart, liebe das Leben und mich interessant nur das, was im Hier und Jetzt passiert. Daraus sollte man das Beste machen und nicht dem Irrglauben verfallen, dass das Leben irgendwo anders besser werden könnte. Dafür ist das Leben viel zu kurz. Ich für meinen Teil genieße mein Leben lieber so, wie es gerade ist. Das mag kitschig klingen, aber im Gegensatz zu religiösen Menschen glaube ich nicht an Vergebung oder Buße. Als Atheist ist man jederzeit für alle seine Taten selbst verantwortlich. Dadurch kann man jeden Tag genießen, ohne den Hintergedanken haben zu müssen, dass es da irgendwo auf der Welt noch etwas Besseres oder Größeres gibt. Diese Gedanken spielen auch im Song Revolution in mir eine Rolle und sind auf eine Idee von Ernst Bloch zurückzuführen. Wenn man den Tod abschaffte – so wie es in diesem Liedtext gefordert wird – und es gäbe kein Leben nach dem Tod, dann müsste man sich mehr auf das Hier und Jetzt fokussieren.

Arne: Ich finde, sich die Realität des Todes bewusst zu machen, hat auch etwas wunderbar Erleichterndes.

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regioactive.de: Im Keller handelt offenbar davon, dass aus etwas leblosen wieder etwas Neues entsteht. Worauf bezieht ihr euch da?

Rick: Der Text spielt auf die Gefahren beim Klonen an. Wir Menschen sind an den Punkt angelangt, wo Klone durch wissenschaftliche Techniken Menschen ersetzen können.

regioactive.de:  Und Neutrum? – spielt der Song auf den berühmten Aufsatz von Roland Barthes an?

Rick: Dirk meinte mal zu mir, dass er den Aufsatz von Roland Barthes gar nicht kannte, bis er vor kurzem darauf hingewiesen wurde. Aber nichtsdestotrotz wird sich um Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft ja leider immer noch heftig gestritten. Man könnte sich wünschen, dass dieses Thema nach all den Jahren endlich vom Tisch ist, aber leider wird man jeden Tag mit einer anderen Realität konfrontiert. Wenn zehnjährige Jungen auf einen zukommen und abschätzend Wörter wie "Schwule" sagen, dann fragt man sich immer wieder, wo diese Kinder das eigentlich aufgreifen und warum sie solche Ausdrucksweisen immer noch benutzen. Man könnte annehmen, dass es die Emanzipation gab und sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat, aber wenn man als Fallbeispiel auf die USA blickt und erkennt, welche Probleme die Amerikaner mit der Homosexuellen-Ehe haben, dann stelle ich mir immer die Frage, warum sie diese Leute nicht in Ruhe ihr Leben leben lassen können. Vielleicht muss man die klassischen Differenzierungen  irgendwann mal gänzlich abschaffen, bis man nicht mehr unterscheiden kann, wer männlich oder weiblich ist. Vielleicht gibt es erst dann echte Gleichberechtigung, wenn alle gleich aussehen. Hoffentlich hört dieser Rassismus und die Unterdrückung bald auf.

Arne: Manche bedienen nur deshalb solche Ängste, um damit in Machtpositionen zu kommen. Das finde ich einfach nur verwerflich.

"Eine Rolle zu spielen kann sehr belastend sein"

regioactive.de: In Vulgäre Verse stellt ihr eine Welt des Ruhms versus das einengende Private. Nach meiner Interpretation geht es hier um Rollen, die man zwar auf der Bühne spielt, im Privaten aber meiden will. Doch der gesellschaftliche Druck zwingt einen dazu, auch im Privaten bestimmte Rollen einzunehmen.

Arne: Ja, der Song spielt mit den verschiedenen Rollen einer Diva. Diese Rolle hat gleichzeitig etwas Neurotisches sowie auch Schönes und Schwächliches. Es geht auch um die Krise nach einer durchzechten Nacht und dem zuschlagenden, ernüchternden Über-Ich nach dem Rausch.

regioactive.de: Inwieweit spielt ihr auch selbst diverse Rollen?

Rick: Eine Rolle zu spielen kann sehr belastend sein. Ich habe letztens Interviews mit Andy Warhol gelesen. Er war ein ganz schüchterner Mensch und hat versucht, immer Leute zu den Presseterminen zu schicken, die ihm ähnlich sahen. Er selbst hat Interviews gehasst. Doch irgendwann wurde dieses Geheimnis öffentlich. Das sahen die Interviewer gar nicht gern. Er hat sich auch getraut auf Fragen nur mit "Ja" und "Nein" zu antworten. So etwas finde ich mutig und toll. Das macht die Rolle interessant. Aber wir selbst sind einfach viel zu schlechte Schauspieler für solche Dinge…

Arne: Wir sind vielleicht vorsichtig und divenhaft, aber diese Diven-Rolle ist zu verteidigen, wenn sie einen gewissen Schutzmechanismus vor den Strapazen oder den steigenden Anforderungen darstellt, die an Bands und die Musik gestellt werden.

regioactive.de: Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt des Albums ist das Thema 'Depressionen' und der gesellschaftliche Druck, unbedingt stark sein zu müssen, was solche Depressionen nur noch verstärkt.

Rick: Leider hat sich an diesem gesellschaftlichen Druck nichts geändert. Die Leute gönnen sich keine Pause und die Medien bzw. neue soziale Plattformen wie Facebook heizen das noch dadurch an, das sie den Eindruck vermitteln, man müsse zwingend immer und überall Bereitschaft zeigen. Überall wird man gefordert Teil eines Teams zu sein, alles super zu finden, beim Job immer 100 Prozent zu geben und das Leben zum Wohle der Arbeit bzw. des Unternehmens aufzugeben. Immer weniger Menschen schalten heutzutage nach einem Arbeitstag einfach mal ab, denn mit Email und Smartphones nimmt man die Arbeit nach Hause mit. Logische Folge ist das Burnout-Syndrom, das immer stärker in den Vordergrund unserer Gesellschaft tritt. Als Musiker, Künstler und Schauspieler spürt man die Auswirkungen manchmal sogar noch schlimmer. Warum sich junge Menschen nach wie vor trotzdem noch nach den berühmten '15 Minuten Ruhm' sehnen… – das frage ich mich bis heute. Jeder will ein Star sein, aber kaum einer weiß, dass das auch der blanke Horror sein kann.

regioactive.de: Vielen Dank für dieses Interview!

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