MELT! 2009: Animal Collective (Ferropolis, 2009)
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MELT! 2009: Animal Collective (Ferropolis, 2009) Foto: René Peschel © regioactive.de

Zum ersten Mal in "aufgelegt" schafft es eine neue Platte auf satte 5 Sterne: Animal Collective erweisen sich erneut als Kreativbrunnen. Common ist endlich wieder eindeutig und Texta bieten Paroli gegen aufgesetzte Images. Karate veröffentlichen 2 Jahre nach ihrer Trennung ein Live-Album und Hoo Doo Girl schwelgen derweil in den 60ern. Außerdem haben Shy Guy At The Show mit "Elliptic" ein sehr gutes Album nachgelegt.

Animal Collective -  Strawberry Jam | Label: Domino

Das Animal Collective mag die Bewegung. Mit jedem neuen Album hat das Kollektiv, das aus Avey Tare (David Portner), Panda Bear (Noah Lennox), Geologist (Brian Weitz) und Deakin (Josh Dibb) besteht, einen neuen Klangkosmos für sich beansprucht: Bei dem Live-Album Hollindagain, einer Improvisation am Lagerfeuer mit Namen Campfire Songs, dem Anti-Folk Klassiker Sung Tongs (mit dem die Bezeichnung Anti-Folk erst so richtig ins Spiel kam) und dem Pop-Rock-Noise Album Feels. Nahezu alle Alben wurden als Highlights des Jahres gen Himmel gehoben und spätestens seit Sung Tongs, das nicht nur durch relativ eingängige Pop-Strukturen glänzt, haben Animal Collective auch ein größeres Publikum erreicht. Neben den Hörern schätzen auch Solokünstler und Bands wie Joanna Newsom, Menomena (Review, 2007), Devandra Banhart, Caribou bis hin zu Win Butler von The Arcade Fire (Review, 2007) die Musik von Animal Collective. Sie alle sehen in Animal Collective so etwas wie einen Kreativbrunnen und fühlen sich inspiriert.

Nun kommt Strawberry Jam auf den Markt und erneut scheinen sich Avey Tare und Co. musikalisch bereits wieder wo anders zu befinden. Im Gegensatz zu Feels, auf dem eine recht vielseitige Instrumentierung zu hören ist, wird bei Strawberry Jam mehr mit dem Sampler und Effekten gearbeitet. Gitarren klingen wie Maschinen, Chöre werden plötzlich zu regelrechten Ambient-Flächen und die Songs wirken zum Teil sehr repetitiv, ja fast schon programmiert. Es entstehen hörbare Parallelen zur Avantgarde Rock-Band Black Dice, die Effektgeräte ebenfalls nutzen, um gewohnte Instrumente ungewöhnlich klingen zu lassen. Das Großartige bei Animal Collective ist jedoch, dass dies zu jedem Zeitpunkt funktioniert und sie ihren Songs mehr Pop einhauchen als je zuvor. Panda Bear, der dieses Jahr schon durch sein gigantisches Solo-Album Person Pitch überzeugen konnte, zeichnet sich auf Strawberry Jam für Derek und Chores verantwortlich. Im Mittelpunkt steht jedoch – wie gewohnt – Avey Tare, dessen Stimme extrem variabel ist und nahtlos zwischen Schrei- und Gesangselementen wandert. Peacebone, der Opener des Albums, deutet schon die Richtung der gesamten Platte an: Pop-Gewitter im LSD-Rausch. Schräge Loops en masse gibt es bei Fireworks, spätestens bei Chores möchten alle dem Rausch verfallen.

Wertung: +++++ (Christian Bethge)

Common - Finding Forever | Label: Universal

Durch einen Rechtsstreit musste Lonnie Rashid Lynn Jr. einst seinen Künstlernamen von Common Sense ("gesunder Menschenverstand") zu Common ("gewöhnlich") abändern. Ob der intelligente Mann aus Chicago seinen Verstand damit auch abgelegt hatte, musste man sich zwischenzeitlich durchaus fragen, wenn er in der Öffentlichkeit beispielsweise doppeldeutige Statements von sich gab, die man als frauenfeindlich und rassistisch verstehen konnte. Mit Finding Forever steht nun sein siebtes Studio-Album im Ladenregal und ambigue Aussagen gehören längst der Vergangenheit an. Während in Commons Anfangsjahren stets No I.D. für die Produktionen verantwortlich war, bildet er nun – wie schon auf Be – einen künstlerischen Einklang mit America’s Most Wanted Kanye West: "My daughter found Nemo / I found the new Premo". Samples von bekannten Stars des Black Soul wie Stevie Wonder, Gil Scott-Heron und Nina Simone sind von Produzentenseite her keine Überraschung, dennoch exzellent in der Auswahl. Was das gewisse Etwas ausmacht, verdeutlicht dann allerdings doch wieder DJ Premier (Premo) auf Game, dem besten Stück des Albums, das von den extravaganten Cuts und Scratches lebt. Unbeliebt macht sich West mit der nervig eingesungenen Leier-Hookline bei Southside.

Positiv erweist sich Commons Entscheidung, Will.i.am von den Black Eyed Peas mit ins Beatbauerboot zu holen, der mit I Want You eine gute Untermalung mit passendem Chorusgesang beisteuert. Commons Lyrics sind ein einziger Genuss. Kaum ein Emcee blieb über 15 Jahre lang derart hochqualitativ im Output und versteht es Autorität, Straßenkredibilität und revolutionären Geist zu vereinen. So Far To Go, das den Soulbrother D’Angelo featuret, ist eine Produktion vom verstorbenen Mastermind J Dilla. Dilla war Commons Inspiration für den Albumtitel Finding Forever, da er auf der Suche nach dem zeitlosen Sound ist, wie ihn Jay Dee mit seinen zahlreichen Klassikern geprägt hat. Nach 'gitarresken' Experimenten (Electric Circus, 2002) scheint Common nun vom Soul der späten Sechziger und frühen Siebziger beeinflusst zu sein und einen Stil gefunden zu haben, der durchaus die Züge eines zeitlosen Charakters trägt. Aufgrund der anlaufenden Schauspielkarriere in Hollywood und der Veröffentlichung von Kinderbüchern ist ihm auch verziehen, dass der Longplayer sehr kompakt geworden ist.

Wertung: ++++ (Andreas Margara)

Texta - Paroli | Label: Geco Tonwa

Wenn eine legendäre HipHop-Crew wie Texta ihr nunmehr sechstes Album veröffentlicht, dann findet das bei so manchem Liebhaber mehr Beachtung, als der aktuelle Release-Zweikampf zwischen den Rap-Superstars Kanye West und 50 Cent. Seit 1993 musizieren die vier Emcees Laima, Huckey, Flip und Skero aus der Alpenrepublik nun schon mit DJ Dan, wodurch unter anderem Hits wie Walkmania entstanden sind, das längst zur Hymne für jedes tragbares Kassetten-Abspielgerät wurde.  "Ihr meint wir haben den Zenit schon überschritten / nur weil wir keine Zeilen über Knarren, Koks und Titten spitten" deutet schon an, gegen was hier "Paroli" geboten werden soll und wird auf dem gleichnamigen Stück auch gleich näher erläutert. Vom politischen Thema (Weltpolizist), das der amerikanischen Entwicklung hin zur Dekadenz gewidmet ist, bis zum storytelling-Track mit deftigem Humor ist ein sehr breites Themenspektrum auf Paroli abgesteckt. Pause für Rebellen ist eine interessante Hommage an Public Enemy, denen im urtypischen Bumrush-Soundgewitter gewürdigt wird.

Auch der Reggae-Einfluss der fünf Männer aus dem direkten Umfeld von Blumentopf und Total Chaos macht sich durch Vocal-Cuts von Barrington Levy und einen eingängigen Riddim auf Überflüssig deutlich und bekommt später, bei Kein Problem, durch den gefeaturten Nikitaman aus dem Rootdown-Camp weiteren Ausdruck verliehen. Mit einer gehörigen Portion Ösi-Charme verbreiten Texta jedoch nicht nur Goodvibes, sondern üben betonte Sozial- und Gesellschaftskritik mit geistreichen Zeilen, die auch noch beim x-ten Mal anhören ihre Wirkung erzielen. Um Gottes Willen ist beispielsweise weniger ein blasphemisches Manifest als eine laute Kritik an blindem Glauben. Das Ganze geschieht wie gewohnt in oberösterreichischer Mundart und ohne den Zeigefinger zu erheben. "Knowledge war mal ein starker Teil von Rap / doch heute passt das nicht mehr ins Härtekonzept" (Der Letzte Schrei) ist letzten Endes Paroli gegen Rap mit aufgesetzten Images. Das Album ist noch ein stückweit aussagekräftiger und emotionsgeladener als ältere Werke, eine Schwachstelle des Albums markieren allerdings die hier und da zweitklassigen Synthie-Beats von Flip.

Wertung: +++ (Andreas Margara)

Hoo Doo Girl - …Calls The Shots | Label: Hazelwood

Wem sagt eigentlich der Name Dr. John noch etwas? Ein kleiner Exkurs: In New Orleans wuchs besagter Dr. John zum begeisterten R&B-Musiker heran und begann in den 50ern zunächst als Studiomusiker. Was folgte war eine beispielhafte Karriere, die bis heute andauert und die üblichen Höhen und Tiefen aufweist, die das Musik- und Showbiz so parat halten. Kurz und bündig: Dr. John alias Malcolm (Mac) John Rebennack Jr. macht das, was man sich in diesen Breiten hinlänglich unter sogenannter Südstaaten-Musik vorstellt. Sein Song I Been Hoodood stand Pate für die Namensgebung einer Hamburger Band namens Hoo Doo Girl. Und genauso wenig, wie damals von Dr. John als weißem Musiker ein Händchen für Südstaaten-Musik – wie sie idealtypischer nicht hätte sein können – erwartet werden konnte, würde man Hoo Doo Girl mit ihrem Album …Calls The Shots auch nur annähernd in der Nähe einer deutschen Hansestadt verorten. Hoo Doo Girl klingen sicherlich nicht ohne Vorsatz beinahe 1 zu 1 wie das Original. Das Original wiederum sind Girlgroups aus den 60ern, wie z.B. die Shirelles oder die Ikettes. Die Pipettes aus Brighton also noch mal in grün? Nicht wirklich. Die Idee eine 60er-Girlgroup auf die Bühne zu bringen ist in der Tat weder neu, noch besonders originell. Austin Powers könnte ein Lied davon singen. Wirklich gut, authentisch und erträglich gelang das jedoch selten. Und genau da kommen Hoo Doo Girl ins Spiel. Der eine mag es 60er-Fetischismus nennen, die andere nicht über die vermeintliche Überkommenheit dieser Musik hinwegkommen.

Wer sich von Stax Soul und Rythm’n’Blues im ursprünglichen Gewand und in Begleitung eines Akkordeons noch anstecken lassen kann, dem seien Hoo Doo Girl und ihr Album …Calls The Shots wärmstens empfohlen. Hier wird ein Zeitgeist auf den Punkt gebracht, wenn auch nicht ganz ohne Augenzwinkern. An jeder Ecke wird eine fast schon verschollen geglaubte Urpop-Ästhetik ordentlich abgestaubt. …Calls The Shots krankt allenfalls an demselben Phänomen, das üblicherweise den meisten sogenannten Retro-Veröffentlichungen widerfährt. Abseits von "Friede-Freude-Eierkuchen"-Nostalgie in Hollywood-Blockbustern (siehe Dreamgirls mit Beyoncé Knowles) oder als popkulturelle Anekdote mit witzhaftem Unterhaltungsfaktor, dringt die Musik vergangener Jahrzehnte kaum noch nennenswert in das aktuelle Musikbewusstsein ein; Retro-Hype hin oder her. Hoo Doo Girl hingegen geht es da genauso wie einstmals Dr. John. Sie meinen es ernst.

Wertung: ++++ (Henning Köhler)

Shy Guy At The Show – Elliptic | Label: Eigenvertrieb

Kürzlich haben wir schon ein Album dieser Band besprochen, ohne zu merken, dass es sich gar nicht um das aktuellste Werk handelt. "Vanish membrane, I am synthetic at heart". So beginnt das wirklich neue Album Elliptic der Karlsruher Musiker von Shy Guy At The Show. New Age? Ambient? The Black Screwdriver mit seinen Synth-Wänden macht erst mal all jene sprachlos, die noch das düstere Gitarrengewitter vom Vorgänger Affection im Ohr haben. Wer den Spuk nach dem 45-sekündigen Opener verflogen wähnt, zuckt dann erneut erschreckt zusammen, als Ghosts wiederum mit hippem Synthie-Intro und Dance-Punk-Beat startet. Nochmal zur Erinnerung: Melancholisch, düster und verspielt wollten Shy Guy At The Show sein – das war offenbar so, könnte man im ersten Moment jedenfalls meinen. Gerade in der größten Verwunderung und mitten in Ghosts lassen Shy Guy At The Show dann das tanzbare Songgerüst knallhart mit dem eigentlich erwarteten Gitarrensound kollidieren. Und plötzlich ist aus der Indie-Disco-Hymne à la Infadels ein ungewaschener Rocksong geworden. Reingefallen, Überraschung gelungen. Weiter im Text. Careful rockt dann auch auf mittlerweile doch recht typische Weise. Und jetzt weiter wie gehabt? Rock? Überhaupt nicht. Tiny Pieces, ein Hybrid aus Beat und tonnenschweren Gitarren, blutgrätscht gekonnt in die "Alles beim Alten"-Parade. Solidarity greift den atmosphärischen Einstieg von The Black Screwdriver wieder auf. Trompeten die nach den frühen Roxy Music klingen, fast meditativ wiederholte Textzeilen, verzerrtes Gelächter und letztlich der Verdacht gerade ein Outkast(!)-Zitat vernommen zu haben, machen das Chaos perfekt. What’s Left Of Jean klingt unerhört euphorisch und fast meint man auch hier wieder das spöttische Gelächter von Solidarity zu vernehmen, wenn Elliptic Hörerinnen und Hörer mit Orgeln und euphorischen Chören aus einem verwirrenden Song-Labyrinth entlässt.

Entgegen der anfänglichen Befürchtungen hat sich der Shy Guy At The Show nicht in den Indie-Disco Hipster verwandelt. Die Gitarren sind in all ihrer Härte geblieben, die Monologe über das Vergessen und das Gewissen offenbaren Dunkles: Erdrückende Nachdenklichkeit, emotionale Taubheit direkt neben unentrinnbarer Sensibilität und die nasskalte Ästhetik eines maroden Rohbaus. Elliptic wartet hinter jedem Song mit einem zynischen Lächeln und ist dabei mit seinen falschen Fährten und Zitaten unverwechselbar morbide. Das ist die komplizierte Erklärung. Vielleicht wollten Shy Guy At The Show in ihren Songs auch einfach nur mehr Pop haben.

Wertung: +++ (Henning Köhler)

Karate - 595 | Label: Southern

595 ist die erste Veröffentlichung von Karate seit 2004. Kein Wunder, denn 2005 löste sich diese Band auf, die niemals stilprägend war, sondern einfach eine ganz eigene Nische im Musik-Universum auftat und es sich dort mehr als nur gemütlich einrichtete. Einen wirklichen Durchbruch schaffte die Band um den Gitarristen und Sänger Geoff Farina nie wirklich. Ihre Nische zwischen Indie, Rock, Blues und Jazz hatte nie einen Hype erfahren, vielleicht auch wegen der vielen traditionellen Elemente im Sound. Man steckte die Band aus Boston Mitte der 90er Jahre in die damals angesagte "Post-Rock"-Schublade, wo sie aber neben Bands wie Tortoise oder dem Rest der Chicagoer Szene völlig deplatziert waren. Karate machten keinen Post-Rock, sondern erdigen Rock, der seine Blues-Wurzeln nicht verleugnet und ein frisches Element durch die lockere, jazzige Spielart von Farina dazu gewann. Über einen fesselnden, spannenden und gleichzeitig relaxtem Groove legen sich diese Gitarrenpassagen. Die Melodien des Gesangs bleiben einfach, aber eingänglich und die Stimme von Farina wirkt meist hemdsärmelig dünn – doch das alles andere als zum Leidwesen der Musik. Nichts drängt sich hier nach vorne, Karate präsentierten ihre eigene Version einer "The Art of the Trio".

595 Shows nachdem Karate zum ersten Mal eine Bühne betreten hatten, spielten Geoff Farina, Jeff Goddard und Gavin McCarthy am 5. Mai 2003 in Leuven in Belgien das Material von ihren Studio-Alben Unsolved, The bed is in the Ocean und anderen. Diese Aufnahme fand ihren Weg zurück zur Band und wurde von den Musikern als eine der besten Live-Aufnahmen aus der besten Zeit von Karate klassifiziert. Grund genug, 595 nun auch zu veröffentlichen. Und eine Chance für alle, noch einmal hinein zu hören und sich davon überzeugen zu lassen, welch eine tighte Band Karate auch – oder vielleicht gerade – live waren. Für Kenner ein Muss. Für alle, die Karate bisher noch nicht kannten, ist 595 auch heute noch die Entdeckung absolut zeitloser Musik, die niemals in eine spezielle Schublade hineinpassen wollte. Highlights: Die fast zehnminütige Version von In Hundreds, There are Ghosts und die über zehn Minuten mit Caffeine or Me.

Wertung: ++++ (Markus Biedermann)

So werten wir:

+
schnell auf ebay damit, bevor es jemand merkt
++
hier mangelt es an so einigen Ecken und Enden
+++
das kann sich wirklich hören lassen
++++
ein TOP-Album
+++++
das hier kann dir die große Liebe ersetzen