Wayne Shorter (Pfalzbau Ludwigshafen, Enjoy Jazz 2011)

Wayne Shorter (Pfalzbau Ludwigshafen, Enjoy Jazz 2011) © Daniel Nagel

Am Freitag Abend strömen Jazzfans aus ganz Deutschland in das stimmungsvoll erleuchtete Feierabendhaus der BASF, um den Auftritt des legendären Saxophonisten Wayne Shorter zu erleben. Um kurz nach 20.00 Uhr ist der Konzertsaal bis auf den letzten Platz gefüllt, Wayne Shorter betritt mit seinem Quartett unter erwartungsvollem Applaus des Publikums die Bühne – einem gelungenen Abend steht nichts mehr entgegen. Leider kommt es jedoch ganz anders.

Wayne Shorter ist inzwischen 73 Jahre alt. Sein Status als lebende Legende gründet sich unter anderem auf seine Mitwirkungen in den verschiedenen Gruppen von Miles Davis zwischen 1964 und 1970 (ESP, Miles Smiles, In A Silent Way und Bitches Brew sind einige der Veröffentlichungen dieser Jahre), seine Soloalben für Blue Note im gleichen Zeitraum (u.a. Juju, Speak No Evil, Adam’s Apple) und seine zentrale Rolle in der Fusion-Band Weather Report mit Joe Zawinul und Jaco Pastorius in den darauffolgenden Dekaden. Vor einigen Jahren stellte er eine neue Gruppe mit dem Pianisten Danilo Perez, dem Schlagzeuger Brian Blade und dem Bassisten John Patitucci, ging auf Tour und veröffentlichte zwei positiv besprochene Livealben, nämlich Footprints Live und Beyond The Sound Barrier.

Was könnte also schöner sein als eine so hervorragend aufeinander abgestimmte Gruppe von Musikern der absoluten Weltklasse zu erleben? So denke auch ich, als das Konzert beginnt. Was sich in dessen ersten Teil, der ungefähr fünfzig Minuten dauerte, allerdings zuträgt, kann man nur als enttäuschend bezeichnen. Das Ensemble beginnt sehr verhalten, das Tempo schleppt sich träge dahin, steigert sich kaum, die Musik wirkt fragmentarisch, es fehlt Spannung und jede Form von Leidenschaft. Es vergeht fast eine Dreiviertelstunde bis irgend etwas auf der Bühne geschieht, das man mit etwas Wohlwollen als „interessant“ bezeichnen könnte. Es bleibt ein Rätsel, warum Shorter nicht die solide rhythmische Grundlage, die Perez, Blade und Patitutici für ihn bereitstellen, nutzt um zu improvisieren, die Musik einfach aus sich herausfließen zu lassen. Stattdessen spielt er einzelne Töne, Melodiefragmente in einem dünnen Ton, der manchmal regelrecht im Spiel der Gruppe untergeht. Über einen längeren Zeitraum scheint der Saxophonist kaum auf der Bühne anwesend zu sein: Selten spielt er länger als zwei Takte, unabhängig davon ob er Tenor- oder Sopransaxophon benutzt, dann pausiert er und lässt die Musik richtungslos dahintreiben. Gelegentlich beendet er seine Improvisationsansätze abrupt, um das Mundstück seines Saxophons zu adjustieren oder lediglich neu anzusetzen, freilich ohne damit eine erkennbare Wirkung zu erzielen. Die Dynamik erfährt kaum eine Variation und was an melodischer oder harmonischer Improvisation vorhanden ist, wirkt banal und beliebig.

Man mag nun einwenden, es habe sich bei dem Konzert eben nicht um einen leidenschaftlichen Auftritt, sondern um eine introspektive und meditative Annäherung an Jazz gehandelt. Gegen ein meditatives Kammerjazz-Konzert ist im Prinzip überhaupt nichts einzuwenden, aber genauso wenig wie ein Buch über die Langeweile nicht selbst langweilig sein darf, so sollte auch ein meditatives Konzert nicht träge und emotionslos dahinplätschern. Gelegentlich versucht Brian Blade, am Schlagzeug etwas Dynamik zu erzeugen, aber seine Versuche verpuffen und die Gruppe versinkt wieder in Lethargie. Am Ende des ellenlangen zweiten Stückes steigert sich das träge Tempo etwas, die Band spielt mit mehr Leidenschaft und auch Shorter zeigt etwas mehr Einsatz. Jedes Anzeichen von Leben auf der Bühne wird vom wohlwollenden Publikum sofort mit kräftigem Applaus gewürdigt. Über die Stagnation, den Leerlauf und die Langeweile kann das freilich nicht hinweghelfen.

Die zweite Hälfte des Konzertes ist etwas besser. Die Band spielt kürzere Stücke in gesteigertem Tempo, Wayne Shorter spielt jetzt häufiger und länger, er wirkt ein wenig involvierter, ohne allerdings musikalisch zu überzeugen: Noch immer ist der Ton seines Spiels dünn und flüchtig, noch immer musiziert er emotions- und leidenschaftslos. Es wäre zwecklos, über die Ursachen dieses Auftritts zu spekulieren, denn niemand außer Shorter kennt sie. Man kann jedoch mit Gewissheit feststellen, dass das Problem nicht bei der Band, sondern bei ihm liegt. Was auch immer er an diesem Abend in Ludwigshafen versucht hat, es ist misslungen. Einer der größten Komponisten des Jazz spielt mehr als neunzig Minuten und ich vermag keine Struktur, geschweige denn ein Stück zu erkennen. Dass er dabei kein Wort an das Publikum richtet, nicht einmal um seine Band vorzustellen, passt ins Bild.

Da die Aufgabe von Perez, Blade und Patitucci in diesem Quartet die von Zuarbeitern ist, haben sie auch nicht die Möglichkeit, gegenzusteuern. Es dauert mehr als eine Stunde bis Danilo Perez sein erstes Solo erhält, in der Zwischenzeit spielt er die ihm zugedachte Rolle des rhythmischen Wasserträgers. Wer ihn schon einmal mit seinem Trio im Konzert erlebt hat, der weiß zu welchen musikalischen Großtaten er fähig ist. An diesem Abend spielt der Pianist ein brillantes Solo – und damit hat es sich. Blade und Patitucci spielen mit Engagement und stellen ihre Fähigkeiten wiederholt unter Beweis, können aber das Konzert ebenfalls nicht retten. Man spürt überdeutlich: Auf der Bühne stehen glänzende, herausragende Musiker, die ein wirklich schwaches Konzert spielen. Es gibt wohl keinen traurigeren, enttäuschenderen Befund.

Das Publikum scheint diesen jedoch – jedenfalls mehrheitlich – nicht zu teilen. Nach knapp neunzig Minuten und einer Zugabe ist das Konzert vorüber, Wayne Shorter und seine Band kehren noch einmal auf die Bühne zurück um die Ovationen der Zuschauer entgegenzunehmen, spielen jedoch kein weiteres Stück. Die Meisten bejubeln die Musiker enthusiastisch, manche spendieren standing ovations. Angesichts des Jubels frage ich mich, ob ich dasselbe Konzert besucht habe wie die begeisterten Zuschauer. Ich denke noch darüber nach, ob ich die Darbietung möglicherweise nicht verstanden habe und was die Ursache dessen sein könnte, als ich an der Garderobe einen jazzkundigen Bekannten treffe, der mich begrüßt und sagt: „Das war ja wohl Stochern im Nebel.“ Traurig, aber wahr.

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